Entscheidungsstichwort (Thema)
Grad der Behinderung bei Diabetes mellitus. Anwendung der AHP
Orientierungssatz
1. Die vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (vormals Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung) herausgegebenen Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) sind zwar kein Gesetz und sind auch nicht aufgrund einer gesetzlichen Ermächtigung erlassen worden. Es handelt sich jedoch bei ihnen um eine auf besonderer medizinischer Sachkunde beruhende Ausarbeitung im Sinne von antizipierten Sachverständigengutachten, die die möglichst gleichmäßige Handhabung der in ihnen niedergelegten Maßstäbe im gesamten Bundesgebiet zum Ziel hat.
2. Abweichend von den vorstehenden Grundsätzen der AHP und der VersMedV legt der Senat, Fortführung LSG Berlin-Potsdam, Urteil vom 19. Mai 2011 - L 13 SB 162/10 in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des im Schwerbehindertenrecht ebenfalls zuständigen 11. Senats des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg, Anschluss: Urteil vom 10. Juni 2011 - L 11 SB 125/09 bei der Beurteilung der von einem Diabetes mellitus ausgehenden Funktionsbeeinträchtigungen für Zeiträume bis zum 31. Dezember 2008 nicht die AHP in ihrer jeweiligen Fassung zugrunde, sondern geht insoweit von der Tabelle aus, deren Anwendung der Ärztliche Sachverständigenbeirat “Versorgungsmedizin„ beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) den zuständigen obersten Landesbehörden bis zu einer endgültigen Klärung der Frage der GdB-Bewertung bei Diabetes mellitus empfohlen hat.
3. Häufige, ausgeprägte oder schwere Hypoglykämien sind zusätzlich zu bewerten.
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 26. Januar 2011 wird zurückgewiesen, soweit sie nicht erledigt ist.
Außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Feststellung eines höheren Grades der Behinderung (GdB) von 50 ab dem 04. Januar 2007 bis zum 31. März 2009.
Der 1947 geborene Kläger ist verheiratet und hat bis in das Jahr 2003 als Kfz-Schlosser gearbeitet. Seit dem Jahr 2007 bezieht er eine vorgezogene Altersrente.
Im Jahre 1998 wurde bei dem Kläger ein Diabetes mellitus Typ II festgestellt, der zunächst medikamentös behandelt wurde und seit 2004 mit der Gabe von Insulin behandelt wird. Mit bestandskräftigem Bescheid vom 24. Juli 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. September 2006 ist zu Gunsten des Klägers ein Gesamt-GdB von 30 aufgrund folgender Funktionsbeeinträchtigungen festgestellt:
Diabetes mellitus (Einzel-GdB 30).
Polyneuropathie (Einzel-GdB 10),
Bluthochdruck (Einzel-GdB 10).
Auf den Neufeststellungsantrag des Klägers vom 04. Januar 2007 stellte der Beklagte nach Beziehung von Befundberichten der behandelnden Ärzte, der Fachärztin für Allgemeinmedizin Dipl.-Med. D vom 28. Januar 2007 und der Fachärztin für Allgemeinmedizin G vom 29. Januar 2007 der gutachtlichen Einschätzung des Praktischen Arztes Dr. Y in seiner Stellungnahme vom 14. März 2007 folgend mit Bescheid vom 26. März 2007 den GdB mit 40 neu fest. Dem lagen folgende Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde:
Diabetes mellitus (Einzel-GdB 30)
Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Nervenwurzelreizerscheinungen der Wirbelsäule (Einzel-GdB 20),
Polyneuropathie (Einzel-GdB 10)
Bluthochdruck (Einzel-GdB 10).
Ferner stellte der Beklagte in dem Bescheid fest, dass die Funktionsbeeinträchtigungen zu einer dauernden Einbuße der körperlichen Beweglichkeit geführt hätten. Den gegen den Bescheid erhobenen Widerspruch vom 13. April 2007 wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 15. August 2007 zurück.
Der Kläger hat am 28. August 2007 Klage vor dem Sozialgericht Berlin erhoben, mit der er sein Begehren auf Feststellung eines GdB von 50 weiterverfolgt hat.
Das Sozialgericht hat Befundberichte der behandelnden Ärzte, der Fachärztin für Allgemeinmedizin Dipl.-Med. D vom 10. Mai 2009 und der Fachärztin für Allgemeinmedizin G vom 18. Mai 2009 eingeholt und sodann den Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. B mit der Erstattung eines Sachverständigengutachtens beauftragt. In seinen Gutachten vom 12. April 2010 nebst ergänzender Stellungnahme vom 18. Oktober 2010 gelangte der Sachverständige nach körperlicher Untersuchung des Klägers vom 09. April 2010 zu der Einschätzung, dass der Gesamt-GdB jedenfalls ab dem 01. Januar 2009 mit 40 festzustellen und für die Zeit zuvor retrospektiv mit dem angenommenen Gesamt-GdB von 40 (eher) überhöht gewesen sei. Der Diabetes mellitus sei angesichts seiner Verschlechterung und deutlich instabileren Stoffwechsellage ab Herbst 2008 seit Gültigkeit der Versorgungsmedizin-Verordnung am 1. Januar 2009 mit einem Einzel-GdB von 40 zu bewerten. Ein besonderer Therapieaufwand, wie er nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts neuerdings zur Beurteilung des GdB bei einem Diabetes mellitus zu berücksichtigen sei, lasse sich beim Kläger indes nicht f...