Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Bekanntgabe eines Verwaltungsakts. Bekanntgabefiktion des § 37 Abs 2 S 1 SGB 10. ordnungsgemäßer Absendevermerk in der Behördenakte. Bekanntgabewille. keine Bekanntgabe bei Einreichung als Schriftsatz ans Gericht. Berichtigung durch Zweitbescheid. Erledigung des Erstbescheids auf sonstige Weise. Schwerbehindertenrecht. GdB-Neufeststellung nach Heilungsbewährung. Herabsetzungsbescheid. Bestimmtheitsgrundsatz. keine Bezeichnung des aufgehobenen Verwaltungsakts. keine Benennung des Geltungszeitraums. Konkretisierung durch Auslegung nach dem Empfänger bekannten Umständen. rechtswidrige Rückwirkung bei späterer Bekanntgabe. zeitliche Teilbarkeit des Bescheids. teilweise zeitraumbezogene Aufhebung des Bescheids durch das Gericht

 

Leitsatz (amtlich)

1. Ein Verwaltungsakt ist nicht bekannt gegeben, wenn der Adressat oder Betroffene nur zufällig oder auf Grund eigener Bemühungen oder durch Dritte, nicht aber von der Behörde Kenntnis von dem Verwaltungsakt erlangt; die Behörde muss dem Adressaten willentlich Kenntnis verschaffen. Es ist daher zweifelhaft, dass es sich bei der Übersendung eines Schriftsatzes an das Gericht um die Bekanntgabe eines Verwaltungsaktes handeln kann.

2. Zwar ist aus Gründen der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit grundsätzlich erforderlich, in einer Aufhebungsentscheidung den aufzuhebenden Verwaltungsakt genau zu benennen und den Umfang der Aufhebung zu bezeichnen. Gleichwohl kann ein Bescheid, mit dem der Grad der Behinderung herabgesetzt wird, auch ohne ausdrückliche Benennung des geänderten Bescheides und des Zeitpunkts, ab dem er gelten soll, im Einzelfall hinreichend bestimmt sein.

 

Orientierungssatz

1. Zu Leitsatz 2 vgl BSG vom 16.3.2010 - B 2 U 2/09 R = BSGE 106, 43 = SozR 4-2700 § 62 Nr 1.

2. Zur Wirksamkeit eines Bescheids, der feststellt, dass der behinderte Mensch "nicht mehr schwerbehindert" sei, und der in der Begründung anführt, der GdB sei nunmehr niedriger zu bewerten und die früheren Entscheidungen seien daher insoweit aufzuheben.

3. Durch einen Zweit(Widerspruchs)bescheid, der mit ansonsten inhaltlich identischen Ausführungen um die genaue Regelung des Herabsetzungszeitpunkts angereichert worden ist (weil die Behörde diesen erkannten Mangel heilen wollte), erledigt sich der vorhergehende (Widerspruchs)Bescheid gemäß § 39 Abs 2 SGB 10 auf sonstige Weise, ohne dass es einer ausdrücklichen Aufhebung bedarf.

4. Für die Bekanntgabefiktion des § 37 Abs 2 S 1 SGB 10 (Bekanntgabe eines schriftlichen Verwaltungsakts am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post) ist eine entsprechender Vermerk in den Behördenakten erforderlich, der - zumindest mit Namenskürzel - die Aufgabe zur Post dokumentiert (vgl BSG vom 6.5.2010 - B 14 AS 12/09 R = SozR 4-1300 § 37 Nr 1).

5. Eine rechtswidrige Rückwirkung der GdB-Festsetzung vor dem Zeitpunkt der (hier nachgewiesenen) Bekanntgabe lässt den Neufestsetzungsbescheid nicht insgesamt rechtswidrig werden; vielmehr ist der Bescheid insoweit vom Gericht für den betroffenen Zeitraum (teilweise) aufzuheben.

 

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin wird unter entsprechender Änderung des Urteils des Sozialgerichts Berlin vom 20. Juni 2018 der Bescheid des Beklagten vom 3. April 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Januar 2016 insoweit aufgehoben, als der Beklagte mit ihm den Grad der Behinderung der Klägerin von 50 auf 30 schon für die Zeit vor dem 16. April 2012 abgesenkt hat.

Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

Der Beklagte hat der Klägerin deren außergerichtliche Kosten für den gesamten Rechtsstreit zur Hälfte zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt den Erhalt eines Grades der Behinderung (GdB) von 50.

Zugunsten der 1967 geborenen Klägerin, die Mitte 2009 an einem Mammakarzinom im Stadium pTis(DCIS) erkrankt war, hatte der Beklagte mit Bescheid vom 24. August 2009 den GdB mit 50 wegen der Erkrankung der Brust links im Stadium der Heilungsbewährung festgestellt.

Mitte 2011 initiierte der Beklagte eine Nachprüfung des GdB von Amts wegen, die Klägerin selbst übermittelte am 27. Juni 2011 ein Antragsformular, auf dem sie angekreuzt hatte, einen Antrag auf Neufeststellung wegen Hinzutretens neuer Behinderungen zu stellen. Der Beklagte ermittelte medizinisch und zwar unter anderem durch Einholung eines Gutachtens bei der Ärztin W vom 26. März 2012 und entschied mit Bescheid vom 3. April 2012, dass der GdB 30 betrage wegen des Verlustes der Brust links und einer Aufbauplastik der Brust links (Einzel-GdB: 20), einer Lymphstauung des Armes links (Einzel-GdB: 20), einer chronischen Nasennebenhöhlenentzündung (Einzel-GdB: 10) sowie muskulärer Verspannungen und Muskelreizerscheinungen der Wirbelsäule (Einzel-GdB: 10). In der Bescheidbegründung wurde ausgeführt, dass der Gesamt-GdB wegen des Eintritts der Heilungsbewährung herabgesetzt werde und die früheren Entscheidungen daher insoweit aufzuheben seien. Die Klägerin legte hiergegen Widerspruch ein. In...

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