Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer in den ersten drei Monaten des Aufenthalts. Anwendbarkeit bei Nachzug von Drittstaatsangehörigen zu einem bereits in Deutschland lebenden Familienangehörigen mit unbefristeter Niederlassungserlaubnis
Leitsatz (amtlich)
1. Der Wortlaut des § 7 Abs 1 S 2 Nr 1 SGB II schließt unterschiedslos alle Ausländerinnen und Ausländer von Leistungen nach dem SGB II aus, unabhängig davon, ob es sich um Unionsbürger oder um Drittstaatsangehörige handelt.
2. § 7 Abs 1 S 2 Nr 1 SGB II ist nicht einschränkend dahingehend auszulegen, dass Drittstaatsangehörige, die zu einem Familienangehörigen, der über eine unbefristete Niederlassungserlaubnis verfügt, nachziehen, vom dreimonatigen Leistungsausschluss ausgenommen sind. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Voraussetzungen zur Erteilung eines Aufenthaltstitels zum Familiennachzug nach § 29 AufenthG nicht vorgelegen haben und weder ein entsprechendes Visum noch ein entsprechender Aufenthaltstitel von der Ausländerbehörde tatsächlich erteilt wurden.
Nachgehend
Tenor
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 09. Dezember 2019 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.
Die Beteiligten haben für das gesamte Verfahren einander keine Kosten zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) im Zeitraum vom 20. Oktober 2014 bis zum 21. Dezember 2014.
Die 1978 geborene Klägerin zu 1) ist die Mutter der im Jahre 2010 und 2012 geborenen Kläger zu 2) und zu 3). Des Weiteren ist sie Mutter eines 2015 geborenen Kindes. Die Kläger besitzen die tunesische Staatsangehörigkeit. Das 2015 geborene Kind besitzt die deutsche Staatsangehörigkeit. Die Klägerin zu 1) ist mit dem Vater der drei Kinder verheiratet. Der Ehemann der Klägerin zu 1) und Vater der Kinder ist ebenfalls tunesischer Staatsangehöriger. Er war von 1996 bis 2004 mit einer Deutschen verheiratet. Ihm wurde am 02. August 1999 zunächst eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis und am 07. Februar 2008 gemäß § 28 Abs. 2 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) eine unbefristete Niederlassungserlaubnis erteilt. Er ging im streitgegenständlichen Zeitraum weder einer selbständigen noch einer unselbständigen Erwerbstätigkeit nach. Der Beklagte gewährte dem Vater bzw. Ehemann der Kläger mit Bescheid vom 24. Oktober 2014 für die Zeit ab dem 01. November 2014 Leistungen nach dem SGB II.
Die Kläger reisten am 20. Oktober 2014 aus Tunesien mit einem Besuchsvisum nach Deutschland ein und zogen in die bereits vom Ehemann bzw. Vater der Kinder bewohnte Wohnung im Zuständigkeitsbereich des Beklagten. Bei der Wohnung handelte es sich im um eine Einzimmerwohnung mit ca. 41m² Wohnfläche. Zu diesem Zeitpunkt war die Klägerin zu 1) schwanger. Der errechnete Entbindungstermin war der 16. Februar 2015. Am 30. Oktober 2014 beantragten die Kläger gemeinsam als Bedarfsgemeinschaft mit dem Vater bzw. Ehemann die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II beim Beklagten. Dieser lehnte die Leistungsgewährung gegenüber den Klägern mit Bescheid vom 10. November 2014 ab. Zur Begründung führte er aus, die Kläger hätten für die ersten drei Monate ihres Aufenthaltes keinen Anspruch auf Gewährung von Leistungen. Dieser Bescheid wurde bestandskräftig.
Die Ausländerbehörde stellte am 22. Dezember 2014 eine bis zum 21. März 2015 geltende Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG für die Kläger aus. Mit seinem Bescheid vom 07. Januar 2015 änderte der Beklagte daraufhin die gegenüber dem Vater bzw. Ehemann ergangenen früheren Leistungsbewilligungen für den Zeitraum vom 01. Dezember 2014 bis zum 30. April 2015 ab und bewilligte gleichzeitig den Klägern erstmals Leistungen nach dem SGB II ab dem 22. Dezember 2014 bis zum 21. März 2015. Mit ihrem gegen den Änderungsbescheid gerichteten Widerspruch vom 12. Januar 2015 beantragten die Kläger zugleich die Überprüfung des Bescheides vom 10. November 2014. Der Änderungsbescheid sei rechtswidrig, soweit er ihnen nicht bereits ab dem 21. Oktober 2014 Leistungen gewähre. Der im Jahr 2007 eingeführte Leistungsausschluss treffe vor allem nachgezogene ausländische Ehepartner von Deutschen und Unionsbürgern, da in diesen Fällen für den Familiennachzug kein Nachweis der Lebensunterhaltssicherung nötig sei. In entsprechender Anwendung der Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 30. Januar 2013 (Az. B 4 AS 54/12 R) sei der Leistungsausschluss entfallen. Die Klägerin zu 1) sei im achten Monat schwanger.
Der Beklagte wies den Widerspruch der Kläger mit Widerspruchsbescheid vom 03. Februar 2015 als unbegründet zurück. Die Entscheidungsgründe des angeführten Urteils des BSG würden den Familiennachzug zu deutschen Staatsangehörigen betreffen und seien nicht auf den vorliegenden Sachverhalt des Nachzugs zu einem Drittstaatsan...