Entscheidungsstichwort (Thema)

Berücksichtigung einer Nachzahlung von Kindergeld als laufende Einnahme bei der Bewilligung von Leistungen der Grundsicherung

 

Orientierungssatz

1. Die Gewährung von Leistungen der Grundsicherung hat nach § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB 2 u. a. die Hilfebedürftigkeit des Antragstellers zur Voraussetzung.

2. Dabei sind als Einkommen nach § 11 SGB 2 Einnahmen in Geld oder Geldeswert abzüglich der nach § 11b SGB 2 abzusetzenden Beträge mit Ausnahme der in § 11a SGB 2 genannten Einnahmen zu berücksichtigen.

3. § 11 Abs. 3 S. 2 SGB 2 in der zum 1. 8. 2016 in Kraft getretenen Fassung ist erst auf danach eingetretene Sachverhalte anzuwenden.

4. Dies entspricht einerseits dem Geltungszeitraumprinzip und andererseits dem materiellen intertemporalen Recht.

5. Die Nachzahlung von Kindergeld stellt bei der Bewilligung von Leistungen der Grundsicherung sowohl nach altem wie nach neuem Recht eine laufende Einnahme i. S. von § 11 Abs. 2 SGB 2 dar.

 

Tenor

Auf die Berufung der Kläger wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 27. April 2018 geändert.

Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 15. Dezember 2014 in der Fassung des Bescheides vom 31. März 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. April 2015 und unter Aufhebung des Bescheides vom 12. Mai 2017 verurteilt, den Klägern Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II in der Zeit vom 1. Januar 2015 bis 31. Mai 2015 ohne Berücksichtigung eines sonstigen monatlichen Einkommens in Höhe von 2.048,63 Euro aus der Kindergeldnachzahlung zu gewähren.

Der Beklagte hat den Klägern die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Kläger begehren vom Beklagten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Zeit vom 1. Januar 2015 bis 31. Mai 2015 ohne Berücksichtigung einer Kindergeldnachzahlung als monatliche Einnahme in Höhe von 2.048,63 Euro.

Die im November 1980 geborene Klägerin zu 1, ihr im November 1974 geborener Ehemann G Y und deren gemeinsamen Kinder, die im April 2000 geborene Klägerin zu 2 und der im Februar 2005 geborene Kläger zu 3 lebten im streitigen Zeitraum in der Wohnung M Allee in B. Die Miete betrug für die ca. 57,38 m2 große Wohnung 473,60 Euro monatlich (361,49 Euro Nettokaltmiete, 72,58 Euro Betriebskostenvorauszahlung, 39,53 Euro Heizkostenvorauszahlung).

Der Ehemann war seit August 2011 und die Klägerin zu 1 war seit April 2014 selbständig im Bereich des Handwerks bzw. der Dienstleistung tätig.

Auf seinen im Juli 2014 gestellten Antrag auf Kindergeld bewilligte die Familienkasse Bayern Nord dem Ehemann Kindergeld für die Kläger zu 2 und 3 in Höhe von insgesamt 368 Euro monatlich (Bescheid vom 24. November 2014). Sie zahlte für die Zeit von August 2011 Dezember 2013 und von April 2014 bis November 2014 Kindergeld in Höhe von insgesamt 12.291,77 Euro nach, das am 28. November 2014 auf dem Konto des Ehemannes einging.

Auf den Weiterbewilligungsantrag lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 15. Dezember 2014 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) für die Zeit vom 1. Januar 2015 bis 30. Juni 2015 ab: Es liege keine Hilfebedürftigkeit vor. Die Kindergeldnachzahlung sei als einmalige Einnahme zu berücksichtigen und gleichmäßig mit 2.048,63 Euro auf einen Zeitraum von sechs Monaten aufzuteilen.

Auf den dagegen eingelegten Widerspruch bewilligte der Beklagte mit Bescheid vom 31. März 2015 dem Ehemann und den Klägern zu 1 bis 3 für die Zeit vom 1. Juni 2015 bis 30. Juni 2015 vorläufig Leistungen in Höhe von insgesamt 440,60 Euro. Mit weiterem Bescheid vom 31. März 2015 lehnte er Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Zeit vom 1. Januar 2015 bis 31. Mai 2015 mit der bisherigen Begründung ab.

Mit dem auch dagegen eingelegten Widerspruch wurde unter Hinweis auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 16. Mai 2012 - B 4 AS 154/11 R vorgetragen, die Kindergeldnachzahlung sei nicht als einmalige Einnahme anzurechnen; vielmehr handele es sich um eine laufende Einnahme.

Mit Widerspruchsbescheid vom 9. April 2015 verwarf der Beklagte den Widerspruch des Ehemannes als unzulässig. Im Übrigen wies er den Widerspruch zurück: Das anzurechnende Einkommen übersteige den Bedarf. Die Kindergeldnachzahlung sei als einmalige Einnahme auf sechs Monate aufzuteilen, so dass für die Zeit ab Dezember 2014 ein Betrag in Höhe von 2.048,63 Euro monatlich zu berücksichtigen sei. Nach dem Urteil des BSG vom 30. September 2008 - B 4 AS 29/07 R ende die rechtliche Wirkung des „Zuflussprinzips“ nicht mit dem Monat des Zuflusses, sondern erstrecke sich über den so genannten „Verteilzeitraum“. Der Verteilzeitraum beginne grundsätzlich mit dem Zeitpunkt des Zuflusses der einmaligen Einnahme und erfasse den gesamten Bewilligungszeitraum. Auch die erneute Antragstellung begrenze den Verteilzeitraum für die einmalige Einnahme nicht, da sie grundsätzlich Einkommen bleibe.

Dagegen haben die Kläger am 27. A...

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