Entscheidungsstichwort (Thema)

Krankenversicherung. Arzneimittelversorgung. Generikaabschlagspflicht. wirkstoffidentische Arzneimittel (hier: "Huminsulin®"/"Huminsulin® KwikpenTM" und "Berlinsulin®") sind "wirkstoffgleich" iSv § 130a Abs 3b SGB 5. Wortlautauslegung. keine teleologische Reduktion. Rechtssicherheit. Gewaltenteilung. Gleichbehandlung. sozialgerichtliches Verfahren. Zulässigkeit der Feststellungsklage. keine notwendige Beiladung ggf erstattungspflichtiger Krankenkassen

 

Leitsatz (amtlich)

1. Zwei in demselben biotechnologischen Herstellungsprozess produzierte und wirkstoffidentische Arzneimittel sind "wirkstoffgleich" im Sinne von § 130a Abs 3b SGB V.

2. Für eine offene, sich über den Wortlaut des Gesetzes hinwegsetzende Rechtsfortbildung bedarf es schwerwiegender Gründe, die sich am Gedanken der Rechtssicherheit und am System der Gewaltenteilung (Art 20 Abs 3 Grundgesetz) messen lassen müssen. Ein Gericht darf den Wortlaut eines Parlamentsgesetzes nur dann über den methodischen Kunstgriff der teleologischen Reduktion beschneiden, wenn der Regelungsirrtum des Gesetzgebers evident ist und verfassungsrechtliche Wertentscheidungen dies gebieten.

 

Orientierungssatz

1. Es kann für die Frage der Abschlagspflicht keinen Unterschied machen, ob derselbe Wirkstoff über ein Einweggerät injiziert wird oder über ein mehrfach verwendbares Gerät, in das jeweils frische Patronen einzugeben sind.

2. Die Frage, ob streitgegenständliche Arzneimittel dem Abschlag nach § 130a Abs 3b S 1 SGB 5 unterliegen, betrifft ein öffentlich-rechtliches Rechtsverhältnis zwischen den Beteiligten. Die Feststellungsklage nach § 55 Abs 1 Nr 1 SGG ist daher zulässig (vgl BSG vom 30.9.2015 - B 3 KR 1/15 R = BSGE 120, 11 = SozR 4-2500 § 130a Nr 10).

3. Von einer Beiladung gegebenenfalls erstattungspflichtiger Krankenkassen kann abgesehen werden, da zwischen diesen und den pharmazeutischen Unternehmern keine unmittelbare Leistungsbeziehung besteht.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 20.12.2018; Aktenzeichen B 3 KR 11/17 R)

 

Tenor

Die Berufungen der Klägerinnen gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 31. Mai 2013 werden zurückgewiesen.

Die Klägerinnen tragen die Kosten des Rechtsstreits jeweils zur Hälfte.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Klägerinnen begehren die Feststellung, dass von ihnen vertriebene Arzneimittel nicht der Abschlagspflicht gemäß § 130a Abs. 3b Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) unterliegen.

Die Klägerin zu 1) vertreibt das Insulinpräparat Huminsulin® in Deutschland. In einem Lizenz- und Liefervertrag hat sie es der Klägerin zu 2) gestattet, das Insulinpräparat unter dem Handelsnamen Berlinsulin® ebenfalls in Deutschland zu vertreiben. Der Wirkstoff und die Zusammensetzung beider Präparate sind identisch. Die Präparate verfügen über ein jeweils eigenes Markenzeichen. Beide Präparate werden von konzernverbundenen Unternehmen der Klägerin zu 1) in demselben biotechnologischen Herstellungsvorgang produziert. Nur die Klägerin zu 1) verfügt über die Zellkultur, aus der der Wirkstoff hergestellt wird.

Die Fachinformation für Huminsulin® (Stand: November 2009) gibt als Darreichungsformen an:

Huminsulin Normal 100:

Injektionslösung in einer Durchstechflasche.

Huminsulin Normal für Pen 3 ml:

Injektionslösung in einer Patrone.

Huminsulin Normal Pen:

Injektionslösung in einem Fertigpen.

Huminsulin Basal (NPH) 100:

Injektionssuspension in einer Durchstechflasche.

Huminsulin Basal (NPH) 100 für Pen 3 ml und Huminsulin Profil III für Pen 3 ml:

Injektionssuspension in einer Patrone.

Huminsulin Basal (NPH) 100 Pen und Huminsulin Profil III Pen:

Injektionssuspension in einem Fertigpen.

Berlinsulin® wird laut Fachinformation (Stand: Januar 2009) in der Darreichungsform “Injektionslösung in einer Patrone„ vertrieben.

Die Originalzulassungen von Huminsulin® und Berlinsulin® beruhen jeweils auf einem vollständigen und eigenständigen Arzneimitteldossier, jedoch auf inhaltlich identischen Zulassungsunterlagen. Die Klägerinnen sind jeweils Zulassungsinhaberinnen für das von ihnen vertriebene Arzneimittel. Seit mindestens 2006 besteht kein Unterlagen- bzw. Patentschutz mehr. Die Beteiligten sind sich darüber einig, dass Berlinsulin® kein Generikum bzw. Biosimilar von Huminsulin® ist.

§ 130a Abs. 3b SGB V (eingeführt durch das Gesetz zur Verbesserung der Wirtschaftlichkeit in der Arzneimittelversorgung [AVWG] vom 26. April 2006, BGBl. I S. 984, in Kraft seit 1. Mai 2006) lautet:

(3b) Für patentfreie, wirkstoffgleiche Arzneimittel erhalten die Krankenkassen ab dem 1. April 2006 einen Abschlag von 10 vom Hundert des Abgabepreises des pharmazeutischen Unternehmers ohne Mehrwertsteuer; für preisgünstige importierte Arzneimittel gilt Absatz 3a Satz 5 entsprechend. Eine Absenkung des Abgabepreises des pharmazeutischen Unternehmers ohne Mehrwertsteuer, die ab dem 1. Januar 2007 vorgenommen wird, vermindert den Abschlag nach Satz 1 in Höhe des Betrages der Preissenkung; wird der Preis innerhalb der folgenden 36 Monate erhöht, erhöht sich der Abschlag nach Satz 1 um ...

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