Entscheidungsstichwort (Thema)

Schwerbehindertenrecht. GdB-Herabsetzung. Absenkung "ab Bekanntgabe". Bestimmtheit. sozialgerichtliches Verfahren. entscheidungserheblicher Zeitpunkt. Versorgungsmedizinische Grundsätze. regelmäßig keine Bildung eines Gesamt-GdB von 50 aus vielen Einzel-GdB von 10 bzw 20

 

Leitsatz (amtlich)

1. Soweit die Behörde den GdB "ab Bekanntgabe" abgesenkt hat, begegnet dies keinen rechtlichen Bedenken, insbesondere ist der Bescheid nicht unbestimmt.

2. Maßgeblich für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit eines den GdB absenkenden Bescheides ist der Zeitraum zwischen Bekanntgabe des Bescheides und des Widerspruchsbescheides.

3. Bedenkt man, dass nach Teil A Nr 3 d) ee) VMG regelmäßig leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung führen, auch nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen, und es auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 vielfach nicht gerechtfertigt ist, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen, ist es in der Regel nicht gerechtfertigt, nur mit Einzel-GdB von 20 und 10 einen Gesamt-GdB von 50 oder mehr zu bilden.

 

Orientierungssatz

Zum Leitsatz 1 vgl Terminbericht zu BSG vom 15.6.2023 - B 9 SB 3/22 R und zum Leitsatz 2 vgl BSG vom 27.5.2020 - B 9 SB 67/19 B.

 

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 19. Mai 2022 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Kostenentscheidung des Sozialgerichts in dem angefochtenen Urteil bleibt hiervon unberührt.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Klägerin wendet sich gegen eine Absenkung ihres Grades der Behinderung (GdB) auf unter 50.

Bei der 1960 geborenen Klägerin wurde 2013 ein invasiv duktales Mammakarzinom links im Stadium cT1c pN1a G3 diagnostiziert. An eine Sentinel-Lymph-Node-Biopsie schlossen sich eine Chemotherapie und eine brusterhaltende Therapie nach Markierung sowie eine axilläre Revision links am 27. Februar 2014 und schließlich eine Bestrahlung an. Mit Bescheid vom 16. Januar 2014 stellte der Beklagte zugunsten der Klägerin wegen einer Gewebeneubildung der linken Brustdrüse in Heilungsbewährung den GdB mit 60 fest. Auf einen Neufeststellungsantrag der Klägerin erhöhte der Beklagte den GdB mit Bescheid vom 18. Dezember 2014 auf 70, wobei er zusätzlich eine psychische Störung (Einzel-GdB 20), eine Nervenstörung (Polyneuropathie) beider Beine (Einzel-GdB 20) und einen Teilverlust der linken Brust (Einzel-GdB 10) berücksichtigte.

Anfang 2019 leitete der Beklagte eine Nachprüfung des GdB von Amts wegen ein. Nach medizinischen Ermittlungen und nach Anhörung der Klägerin mit Schreiben vom 3. April 2019 stellte der Beklagte mit Bescheid vom 15. Januar 2020 unter entsprechender Aufhebung seines Bescheides vom 18. Dezember 2014 mit Wirksamkeit ab Bekanntgabe des Bescheides den GdB mit 30 fest, wobei er eine psychische Störung (Einzel-GdB 20), eine Harninkontinenz (Einzel-GdB 20), eine Nervenstörung (Polyneuropathie) beider Beine (Einzel-GdB 20), einen Teilverlust der linken Brust (Einzel-GdB 10), eine Funktionsstörung der Wirbelsäule (Einzel-GdB 20), ein Lymphödem des linken Armes (Einzel-GdB 20) und eine Nervenstörung (Polyneuropathie) beider Arme (Einzel-GdB 20) berücksichtigte. Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 6. April 2020 zurück.

Hiergegen hat die Klägerin am 27. April 2020 Klage erhoben.

Das Sozialgericht hat Befundberichte eingeholt bei dem Frauenarzt Dr. G, dem Orthopäden F, der Internistin Dr. K-G und bei dem Medizinischen Versorgungszentrum D T Z - A F Tor.

Das Sozialgericht hat bei dem praktischen Arzt M ein medizinisches Gutachten vom 15. April 2021 eingeholt, das dieser nach ambulanter Untersuchung der Klägerin am 5. März 2021 erstellt hat und in dem er zu der Einschätzung gelangt ist, der GdB bei der Klägerin habe am 6. April 2020 40 betragen und betrage auch aktuell 40. Dabei sei von folgenden Funktionsbeeinträchtigungen und Einzel-GdB auszugehen:

- Funktionsminderung der Hand- und Fingergelenke, Nervenstörung der Arme (Polyneuropathie), Lymphödem des linken Armes (20),

- Funktionsminderung der Wirbelsäule (20),

- Nervenstörung (Polyneuropathie) beider Beine (20),

- rezidivierende depressive Störungen (20),

- Harninkontinenz (20),

- Teilverlust der linken Brust (10).

Der Beklagte hat zu dem Gutachten des Sachverständigen M eine umfangreiche ärztliche Stellungnahme von Dr. H zu den Gerichtsakten gereicht, der erklärt hat, dem Sachverständigen könne nicht gefolgt werden, es liege sogar nur ein Gesamt-GdB von 20 vor.

Auch die Klägerin hat zu dem Gutachten von dem Sachverständigen M eingehend Stellung genommen. Sie hat erklärt, die Funktionsstörungen im Bereich der Hände, Finger und Handgelenke, der Hals- und der Lendenwirbelsäule sowie die Neuropathie in den Füßen und Beinen und di...

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