Entscheidungsstichwort (Thema)
Anspruch des Versicherten mit einem Therapie-Dreirad
Orientierungssatz
1. Die Eigenschaft eines Therapiedreirades als Hilfsmittel i. S. von § 33 SGB 5 wird allein nach objektiven Kriterien bestimmt. Personenbezogene Merkmale sind hierfür nicht maßgeblich, vgl. BSG, Urteil vom 18. Mai 2011 - B 3 KR 7/10 R.
2. Ein Hilfsmittel zum mittelbaren Behinderungsausgleich ist von der gesetzlichen Krankenversicherung nur zu gewähren, wenn es die Auswirkungen der Behinderung im gesamten täglichen Leben beseitigt oder mildert und damit ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betrifft.
3. Das Grundbedürfnis auf Erschließung eines körperlichen Freiraums umfasst die Bewegungsmöglichkeit in der eigenen Wohnung und im umliegenden Nahbereich. Maßgeblich ist der Bewegungsradius, den ein Nichtbehinderter üblicherweise zu Fuß zurücklegt.
4. Dem Nahbereich sind solche Wege zuzuordnen, die räumlich einen Bezug zur Wohnung und sachlich einen Bezug zu den Grundbedürfnissen der physischen und psychischen Gesundheit bzw. der selbständigen Lebensführung aufweisen.
5. Hilfsmittel, die dem Versicherten eine über den Nahbereich hinausgehende Mobilität ermöglichen, sind im Einzelfall dann zu gewähren, wenn besondere qualitative Momente dieses Mehr an Mobilität erfordern.
6. Tritt zu den Bewegungseinschränkungen infolge einer Multiplen Sklerose eine Blasenschwäche hinzu, die mit zeitweiser Harninkontinenz verbunden ist, so ist zur Bewältigung der zum Toilettengang erforderlichen Wege im Einzelfall die Versorgung mit einem Therapiedreirad erforderlich, weil der Versicherte anderenfalls das Grundbedürfnis auf Mobilität ohne Inkaufnahme gesundheitlicher Einschränkungen nicht wahrnehmen kann, vgl. BSG, Urteil vom 24. Mai 2006 - B 3 KR 12/05 R.
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 24. November 2010 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin auch für das Berufungsverfahren zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Versorgung mit einem Therapiedreirad.
Die 1978 geborene Klägerin leidet an Multipler Sklerose mit Gangunsicherheit und Koordinationsstörungen in den Armen und Beinen sowie einer Blasenschwäche. Hierdurch kam es in der Vergangenheit zu rezidivierenden Stürzen sowie Lähmungserscheinungen im linken Bein. Ihr wurde ein Grad der Behinderung von 70 sowie das Merkzeichen “G„ zuerkannt. Sie bezieht Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung nach Pflegestufe I sowie seit Februar 2006 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Sie lebt allein im dritten Obergeschoss eines Hauses, das über keinen Fahrstuhl verfügt, und besitzt keinen PKW.
Unter dem 4. Februar 2008 bescheinigte ihr die Physiotherapiepraxis K, dass sie wegen rezidivierender Inkontinenz und starker Gangstörung wichtige Termine kaum noch ohne Begleitung wahrnehmen könne. Wegen einer veränderten Belastung der Gelenke stelle ein Therapiedreirad eine Entlastung gegenüber dem bisher genutzten Rollator dar. Nachdem die Klägerin eine ärztliche Verordnung der Fachärztin für Nervenheilkunde I für ein Dreirad bei der H Krankenkasse, eine Rechtsvorgängerin der Beklagten, eingereicht hatte, lehnte diese Rechtsvorgängerin mit Bescheid vom 3. März 2008 die Kostenübernahme für ein Spezial-Dreirad ab, da die Klägerin älter als 15 Jahre sei. Den Widerspruch der Klägerin, dem diese eine ärztliche Verordnung von Frau I für ein “Spezial Dreirad (T-Bike)„ aufgrund der Diagnose Encephalomyelitis disseminata mit Progression beigefügt hatte, wies die Rechtsvorgängerin der Beklagten mit Widerspruchsbescheid vom 30. Juni 2008 zurück.
Mit Urteil vom 24. November 2010 hat das Sozialgericht unter Aufhebung der entgegenstehenden Bescheide die Beklagte verurteilt, die Klägerin mit einem Therapiedreirad zu versorgen, und dies wie folgt begründet: Die Klägerin könne ihren Anspruch darauf stützen, dass sie erst mit dem beantragten Therapiedreirad in die Lage versetzt werde, den Bewegungsradius mit eigener Kraft zu erreichen, den ein gesunder Versicherter zu Fuß zurücklege. Die Klägerin sei zurzeit mit Unterarmgehstützen und einem Rollator versorgt. Der Umstand, dass sie mit dem Rollator lediglich eine Strecke von maximal 100 Metern ohne Begleitung zurücklegen könne, begründe den Anspruch auf das Therapiedreirad. In dem von der Beklagten veranlassten Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) vom 4. September 2009 habe der Gutachter Dr. M ausgeführt, dass in Anbetracht der bestehenden und deutlich progredienten Multiplen Sklerose und unter Berücksichtigung des Pflegegutachtens aus dem Jahre 2006 von einer erheblich eingeschränkten Mobilität der Klägerin auszugehen sei, so dass aus sozialmedizinischer Sicht die Indikation für eine Versorgung meinem Aktivrollstuhl bestehe. Eine Versorgung mit einem Therapiedreirad sei - so das das Gutachten - aus sozialmedizinischer Sicht dann zu empfehlen, wenn es ersatzweise für einen medizinisch sinnvollen Rollstuhl...