Entscheidungsstichwort (Thema)
Anforderungen an die Glaubhaftmachung des angeschuldigten Ereignisses zur Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz
Orientierungssatz
1. Anspruch auf Versorgungsleistungen nach §§ 1 Abs. 1, 10a OEG i. V. m. dem BVG besteht u. a. dann, wenn der Geschädigte i. S. von § 15 KOVVfG glaubhaft macht, dass er im Kindesalter Opfer sexuellen Missbrauchs geworden ist. Abweichend von dem Grundsatz, dass der schädigende Vorgang des Vollbeweises bedarf, genügt danach die überwiegende Wahrscheinlichkeit, d. h. die gute Möglichkeit, dass sich der Vorgang so wie geltend gemacht zugetragen hat.
2. Nach § 20 Abs. 1 S. 2 SGB 10 bestimmt im Verwaltungsverfahren die Behörde Art und Umfang der Ermittlungen. Ergibt sich nach den eigenen Angaben des Betroffenen im Zusammenhang mit den verfügbaren Anhaltspunkten die gute Möglichkeit, dass sich der geltend gemachte Vorfall so ereignet hat, wie er vom Geschädigten geschildert wird, so ist diesem Entschädigung zu gewähren.
Tenor
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 8. August 2011 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat der Klägerin deren notwendige außergerichtliche Kosten des gesamten Verfahrens im vollen Umfang zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darum, ob der Klägerin Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) zu gewähren ist.
Die 1964 geborene Klägerin beantragte am 1. September 2006 bei dem Beklagten Entschädigungsversorgung nach dem OEG: Aufgrund sexuellen Missbrauchs durch den - inzwischen verstorbenen - Vater ihrer Pflegemutter und dessen Freunde in dem Zeitraum vom Sommer 1968 bis Mitte 1974 leide sie an psychischen Erkrankungen.
Zu Beginn der Ermittlungen wandte der Beklagte sich an den Fachpsychologen für Rechtspsychologie Prof. Dr. St, der in seinem als aussagepsychologische Stellungnahme bezeichneten Schreiben vom 3. Januar 2007 ausführte, eine positive Substantiierung des Erlebnisgehalts des Missbrauchs aufgrund einer aussagepsychologischen Begutachtung erscheine nicht a priori aussichtslos, und detaillierte Vorschläge machte, welche Ermittlungen vor einer Begutachtung durchzuführen seien. Dem kam der Beklagte nach, indem er neben Befundberichten der die Klägerin behandelnden Ärzte eine schriftliche Aussage des Ehemanns der Klägerin vom 23. Januar 2007 einholte, der erklärte, die Klägerin habe ihm 1992 von dem sexuellen Missbrauch erzählt. Bei einem gemeinsamen Gespräch mit der Pflegemutter, die inzwischen verstorben sei, habe diese, als die Klägerin ihr vorgeworfen habe, von dem Missbrauch gewusst, aber nichts getan zu haben, gesagt: “Nicht nur du, I doch auch. Das war doch ganz normal.„ I sei ein weiteres Pflegekind gewesen. Ende 2001, kurz vor ihrem Tod, habe sie in seinem Beisein bestätigt, ebenfalls missbraucht worden zu sein.
Im Auftrag des Beklagten erstattete die Fachpsychologin für Rechtspsychologie Dr. E auf der Grundlage von ambulanten Untersuchungen der Klägerin und einer Befragung deren Ehemanns das aussagepsychologische Gutachten vom 17. September 2007. Hierbei orientierte sie sich an den Anforderungen, die der Bundesgerichtshof im Urteil vom 30. Juli 1999 (- 1 StR 618/98 -, BGHSt 45, 164) für den Strafprozess formuliert hatte.
Die Gutachterin gelangte zu dem Ergebnis, dass aufgrund der psychischen Besonderheiten der Klägerin - insbesondere wegen einer dissoziativen Störung - bezüglich eines Großteils ihrer Angaben von einer fehlenden Aussagefähigkeit auszugehen sei. Im Übrigen lägen unter Berücksichtigung der Aussageentstehungs- und Aussageentwicklungsgeschichte zwar Anhaltspunkte dafür vor, dass die Schilderungen von sexuellen Übergriffe seitens des Vaters der Pflegemutter zumindest teilweise auf einem realen Erlebnishintergrund beruhen würden. Dafür sprächen aber insbesondere Faktoren, deren Würdigung außerhalb aussagepsychologischer Beurteilungsmöglichkeiten liege. Indessen lasse sich die Denkmöglichkeit, dass es infolge autosuggestiver Prozesse zu den in Frage stehenden Angaben gekommen sei, aus aussagepsychologischer Sicht nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zurückweisen. Zumindest sei es sehr wahrscheinlich, dass die aktuellen Schilderungen der Klägerin im hohen Maße durch autosuggestive Prozesse verzerrt und aggraviert seien. Ob und gegebenenfalls welche der nun von der Klägerin vorgebrachten Anschuldigungen auf einem realen Erlebnishintergrund beruhten und welche durch autosuggestive Einflussnahmen kontaminiert seien, lasse sich u.a. aufgrund des langen Zeitablaufs, der Intensität verfälschender Wirkfaktoren und den individuellen Besonderheiten der Klägerin mit aussagepsychologischen Mitteln retrospektiv nicht klären.
Der Beklagte lehnte den Antrag durch Bescheid vom 22. Oktober 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Juli 2008 mit der Begründung ab, die von der Klägerin behaupteten sexuellen Übergriffe seien nicht nachgewiesen.
Mit ihrer K...