Entscheidungsstichwort (Thema)

Kassenärztliche Vereinigung. Honorarverteilung. rückwirkende Änderung des Verteilungsmaßstabs für das Quartal I/2009 nach Inkrafttreten des § 87b Abs 1 S 2 SGB 5 idF des GKV-VStG nur im Benehmen mit den Krankenkassen unzulässig. Grundsatz des intertemporalen Verfahrensrechts. Orthopädin mit Schwerpunktbezeichnung Rheumatologie. Geltendmachung von Praxisbesonderheiten. Leistungsbereiche müssen einzeln einen signifikanten Anteil von mindestens 12 % am gesamten Leistungsgeschehen ausmachen. Widerspruchsverfahren. Erlass nur eines Widerspruchsbescheides hinsichtlich desselben Regelungsgegenstandes

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die allgemeinen Grundsätze des intertemporalen Verfahrensrechts gelten auch für untergesetzliche Normgebung.

2. Eine Kassenärztliche Vereinigung war im Jahre 2015 nicht befugt, den Honorarverteilungsmaßstab für das Quartal I/2009 nur im Benehmen mit den Krankenkassen zu ändern.

3. Zum Vorliegen von Praxisbesonderheiten (hier verneint im Falle einer Orthopädin mit Schwerpunktbezeichnung Rheumatologie, bei der keiner der geltend gemachten Leistungsbereiche für sich genommen einen signifikanten Anteil - mindestens 12 % - am gesamten Leistungsgeschehen ausmacht).

 

Orientierungssatz

1. Der Grundsatz, dass neues Recht nicht zurückwirkt, wird ergänzt durch den Grundsatz "tempus regit actum", wonach sich die Beurteilung eines Sachverhalts grundsätzlich, insbesondere für in der Vergangenheit liegende Umstände, nach dem damals geltenden Recht richtet. Dieses Zusammenspiel betrifft nicht nur einzelne Rechtsakte, sondern gilt auch, wenn die Rechtmäßigkeit von Rechtsvorschriften zu beurteilen ist.

2. Es spricht einiges dafür, dass die Kassenärztliche Vereinigung nicht hinsichtlich desselben Regelungsgegenstandes mehrere Widerspruchsverfahren durchführen, sondern im Hinblick auf § 86 SGG nur einen Widerspruchsbescheid erlassen darf, in dem sie auf die Einwände sowohl gegen den RLV-Zuweisungsbescheid als auch wegen der nicht oder nur teilweise anerkannten Praxisbesonderheiten eingeht (vgl BSG vom 2.8.2017 - B 6 KA 7/17 R = SozR 4-2500 § 87b Nr 12 und B 6 KA 3/17 R, LSG Schleswig vom 8.11.2016 - L 4 KA 44/14).

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 26.06.2019; Aktenzeichen B 6 KA 1/18 R)

 

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts vom 29. Januar 2014 und der Bescheid der Beklagten vom 28. Oktober 2009 in der Gestalt des Bescheides vom 10. März 2011, beide in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. April 2011, geändert. Die Beklagte wird verpflichtet, über die Anerkennung von Praxisbesonderheiten für das Quartal I/2009 unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Senats erneut zu entscheiden.

Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

Von den Kosten des Rechtsstreits tragen die Klägerin 3/4 und die Beklagte 1/4.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt ein höheres Regelleistungsvolumen (RLV) für die Quartale I/2009 bis IV/2009.

Die Klägerin nimmt seit Oktober 2000 als Fachärztin für Orthopädie im Berliner Verwaltungsbezirk P an der vertragsärztlichen Versorgung und seit 2006 als „Schwerpunkt-Rheumatologe“ an der zwischen der beklagten Kassenärztlichen Vereinigung (KV) und der AOK Berlin (heute: AOK Nordost) abgeschlossenen „Vereinbarung zur Förderung der ambulanten medizinischen Versorgung auf dem Gebiet der Rheumatologie“ teil. Die Beklagte erteilte ihr ferner eine Abrechnungsgenehmigung für die Behandlung eines Patienten mit Funktionsstörung der Hand im Rahmen des Fachgebietes Orthopädie gemäß EBM-Nr. 18330. Außerdem ist sie berechtigt, die Zusatzbezeichnungen „Chirotherapie“, „Rehabilitationswesen“ und „Spezielle Schmerztherapie“ zu führen. Sie macht im hiesigen Rechtsstreit insbesondere geltend, überdurchschnittlich viele Rheuma-, Osteoporose- und Patienten mit chronischen Schmerzen zu versorgen und in diesem Zusammenhang die Leistungen nach den Gebührenordnungspositionen (GOP) des Einheitlichen Bewertungsmaßstabes (EBM) deutlich häufiger als ihre Arztgruppe abzurechnen:

GOP

Leistungsbeschreibung (hier in der in IV/2009 geltenden Fassung)

18310

Zusatzpauschale Behandlung und ggf. Diagnostik von Erkrankungen des Stütz- und Bewegungsapparates (angeboren, traumatisch, posttraumatisch, perioperativ) und/oder von (einer) entzündlichen Erkrankung(en) des Stütz- und Bewegungsapparates und/oder von (einer) Skelettanomalie(n) bei Neugeborenen, Säuglingen, Kleinkindern und Kindern

18311

Zusatzpauschale Behandlung und ggf. Diagnostik von Erkrankungen des Stütz- und Bewegungsapparates (angeboren, erworben, degenerativ, posttraumatisch, perioperativ) und/oder einer entzündlichen Erkrankung des Stütz- und Bewegungsapparates bei Jugendlichen und bei Erwachsenen

(außer degenerativen und funktionellen Erkrankungen der Wirbelsäule)

18320

Zusatzpauschale Orthopädische oder orthopädisch-rheumatologische Funktionsdiagnostik bzw. Assessment mittels Untersuchungsinventaren

18330

Zusatzpauschale Diagnostik und/oder orthopädische Therapie eines Patienten mit einer Funktio...

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