Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende: Anforderungen an die Annahme eines Mehrbedarfs wegen kostenaufwändiger Ernährung bei Diabetis mellitus. Zulässigkeit der einvernehmlichen Verlängerung der Widerrufsfrist eines Prozessvergleichs durch die Parteien. Gesundheitliche Beeinträchtigung. Zusätzliche Kosten. Empfehlungen des Deutschen Vereins. Sozialgeld. Höhe der Regelleistung. Erledigung des Verfahrens
Orientierungssatz
1. Ein Mehrbedarf für kostenaufwendige Ernährung kommt nur für unabdingbar notwendige Nahrungsmittel in Betracht, nicht für sonstige medizinisch bedingte Bedarfe (hier: Sauger).
2. Allein der Vortrag, dass aus medizinischen Gründen (hier: Diabetes mellitus) einem Kind Zwischenmahlzeiten angeboten werden müssen, führt nicht zur Annahme einer kostenaufwändigen Ernährung, wenn nicht zugleich eine erhöhte Kalorienzufuhr erforderlich ist, da insoweit die Zwischenmahlzeiten zugleich zur Einsparung von Lebensmitteln im Rahmen der Hauptmahlzeiten führt.
3. Im sozialgerichtlichen Verfahren können die Parteien nach Abschluss eines widerruflichen gerichtlichen Vergleichs einvernehmlich die Verlängerung der Widerrufsfrist des Vergleichs wirksam vereinbaren. Zur Wirksamkeit der Fristverlängerung ist aber die Anzeige der einvernehmlichen Regelung gegenüber dem Gericht erforderlich.
4. Einzelfall zum Nachweis der konkreten Ausgaben für eine kostenaufwändige Ernährung (hier abgelehnt).
5. Einzelfall zur Beurteilung der Notwendigkeit einer kostenaufwändigen Ernährung bei einem an Diabetes mellitus erkrankten Kind (hier: abgelehnt).
Normenkette
SGB II § 21 Abs. 5, § 20 Abs. 1; SGG § 101 Abs. 1
Tenor
Auf die Berufung des Beklagten wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 21. Juni 2011 aufgehoben.
Die Klagen werden in vollem Umfang abgewiesen.
Die Anschlussberufung der Kläger wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten der Rechtsstreite sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Im Streit sind höhere Leistungen unter Berücksichtigung eines Mehrbedarfes für kostenaufwändige Ernährung für den Kläger zu 4) nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Zeiträume vom 1. Februar 2009 bis zum 31. Juli 2009 und vom 1. Februar 2010 bis zum 31. Januar 2011.
Die 1973 geborene Klägerin zu 1) und der 1966 geborene Kläger zu 2) leben in einer Lebenspartnerschaft zusammen und sind die Eltern des 2002 geborenen Klägers zu 3) und des am 2. August 2006 geborenen Klägers zu 4). Zum 1. Oktober 1999 mieteten die Kläger zu 1) und 2) gemeinsam als Hauptmieter unter der aus dem Rubrum ersichtlichen Anschrift eine Dreizimmerwohnung mit 92,50 m² Wohnfläche zu einem damaligen monatlichen Mietzins von 1190 DM. Der Kläger zu 2) steht als Staplerfahrer in einem festen Arbeitsverhältnis; die Klägerin zu 1) ist als Rechtsanwalts- und Notargehilfin tätig gewesen. Seit Juli 2006 erhält die Bedarfsgemeinschaft von dem Beklagten Leistungen nach dem SGB II.
Am 13. September 2007 wurde bei dem Kläger zu 4) ein insulinpflichtiger Diabetes Mellitus (Typ 1) festgestellt. Mit Bescheid vom 5. März 2008 stellte das Landesamt für Gesundheit und Soziales Berlin - Versorgungsamt - für den Kläger zu 4) einen Grad der Behinderung (GdB) von 50 und das Merkzeichen “H„ (Hilflosigkeit) fest.
Der Beklagte bewilligte den Klägern zunächst ergänzende Leistungen nach dem SGB II unter Berücksichtigung eines monatlichen Mehrbedarfes in Höhe von 25,56 € für den Kläger zu 4), zuletzt mit Bescheid vom 22. Juli 2008 für den Zeitraum vom 1. August 2008 bis zum 31. Januar 2009 in monatlicher Höhe von insgesamt 736,52 €.
Für den Folgezeitraum vom 1. Februar 2009 bis zum 31. Juli 2009 bewilligte der Beklagte mit Bescheid vom 26. Januar 2009 nur noch vorläufig monatliche Leistungen in Höhe von 603,63 €. Außerdem führte der Beklagte aus, dass für den Kläger zu 2) (richtig: für den Kläger zu 4]) nach den neuen Richtlinien kein Mehrbedarf für kostenaufwändige Ernährung gewährt werden könne.
Gegen diesen Bescheid erhoben die Kläger am 16. Februar 2009 mit der Begründung Widerspruch, ein Mehrbedarf für die Ernährung sei medizinisch begründet und die Kosten für die Ernährung würden die Aufwendungen überschreiten, die mit dem Regelsatz abgedeckt seien. Es werde daher ein Mehrbedarf für den Kläger zu 4) in Höhe von monatlich 51,13 €, hilfsweise 25,56 € beantragt. Es sei insbesondere zu berücksichtigen, dass der Kläger zu 4) erst zweieinhalb Jahre alt sei.
Mit Änderungsbescheiden vom 5. März 2009, 17. April 2009 und 4. Mai 2009 änderte der Beklagte seine Bewilligung für den Zeitraum vom 1. Februar 2009 bis zum 30. April 2009 ab und bewilligte nunmehr für die Monate Februar 2009 und März 2009 jeweils 649,01 € und für den Monat April 2009 insgesamt 676,79 €.
Mit Widerspruchsbescheid vom 8. Juni 2009 wies die Beklagte den Widerspruch gegen diese Bescheide zurück. Ein Anspruch auf einen Mehrbedarf für kostenaufwändige Ernährung aufgrund der Diabetes-Erkrankung bestehe nach den Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche un...