Entscheidungsstichwort (Thema)

Gesetzliche Unfallversicherung. Bewertung der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) bei Vorliegen einer mittelgradigen depressiven Episode mit somatischem Syndrom und begleitender ägnstlich-phobischer Symptomatik nach Miterleben eines Raubüberfalls. Zurechnung ärztlicher Behandlungsfehler als mittelbare Unfallfolge. Postraumatische Belastungsstörung

 

Orientierungssatz

1. Auch in Fällen, in denen die ärztliche Behandlung durchgängig darauf gerichtet ist, Unfallfolgen zu behandeln, die ärztliche Diagnose oder die Behandlung aber fehlerhaft ist, sind auftretende Komplikationen oder Gesundheitsschäden in der Regel vom Risikobereich der gesetzlichen Unfallversicherung erfasst und als mittelbare Unfallfolgen zu entschädigen (BSG, Urteil vom 05.08.1993 - 2 RU 34/92).

2. Für die Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung ist es erforderlich, dass sowohl zwischen der unfallbringenden Tätigkeit und dem Unfallereignis als auch zwischen dem Unfallereignis und der Gesundheitsschädigung ein innerer ursächlicher Zusammenhang besteht. Dabei müssen die versicherte Tätigkeit, der Arbeitsunfall und die Gesundheitsschädigung im Sinne des Vollbeweises - also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - nachgewiesen werden, während für den ursächlichen Zusammenhang als Voraussetzung für die Entschädigungspflicht, der nach der auch sonst im Sozialrecht geltenden Lehre von der wesentlichen Bedingung zu bestimmen ist, grundsätzlich die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit - nicht allerdings die bloße Möglichkeit - ausreicht. Eine solche Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, wenn nach vernünftiger Abwägung aller Umstände den für den Zusammenhang sprechenden Faktoren ein deutliches Übergewicht zukommt, so dass die richterliche Überzeugung hierauf gestützt werden kann.

3. Steht die unfallbedingte Leistungseinbuße fest, so ist zu bewerten, wie sie sich im allgemeinen Erwerbsleben auswirkt. Um die MdE einzuschätzen sind die Erfahrungssätze zu beachten, die die Rechtsprechung und das versicherungsrechtliche sowie versicherungsmedizinische Schrifttum herausgearbeitet haben. Auch wenn diese Erfahrungssätze das Gericht im Einzelfall nicht binden, so bilden sie doch die Grundlage für eine gleiche und gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis.

 

Tenor

Das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 2. April 2007 wird aufgehoben. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 17. September 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Dezember 2004 verurteilt, der Klägerin aufgrund des Arbeitsunfalls vom 28. Januar 2003 ab 8. August 2004 eine Verletztenrente nach einer MdE von 40 v.H., ab November 2004 nach einer MdE von 30 v.H. und ab Juli 2008 nach einer MdE von 20 v.H. zu gewähren.

Die Beklagte trägt die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin für beide Rechtszüge.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Gewährung einer Verletztenrente aufgrund eines Arbeitsunfalls/Raubüberfalls vom 28. Januar 2003.

Die 1960 geborene Klägerin war seit August 1997 bei der L GmbH in B als Kassiererin beschäftigt. Am 28. Januar 2003 wurde die Tankstelle, in der die Klägerin allein tätig war, um circa gegen 20.30 Uhr von zwei bewaffneten und maskierten Männern überfallen. Einer der Täter bedrohte die Klägerin mit einer Schusswaffe.Bis zum Ablauf der 78. Woche, das heißt bis zum 8. August 2004,bezog die Klägerin aufgrund der Unfallfolgen Verletztengeld von der Beklagten.

Am 10. Februar 2003 begab sich die Klägerin zum Arzt für Chirurgie und Durchgangsarzt Dr. St, der sie wegen einer Angststörung an einen Psychologen beziehungsweise Psychotherapeuten überwies. Die Beklagte zog Behandlungsunterlagen der die Klägerin behandelnden Dipl.-Psychologin E bei und veranlasste die Begutachtung der Klägerin durch die Ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. B, die in ihrem Gutachten vom 16. September 2003 u. a. ausführte, bei der Klägerin liege eine posttraumatische Belastungsstörung vor. Der ursächliche Zusammenhang zwischen dieser Gesundheitsstörung und dem Unfall sei gegeben. Der bewaffnete Raubüberfall vom 28. Januar 2003 sei seiner Eigenart und Stärke nach geeignet gewesen, bei jedem Menschen eine akute Belastungsreaktion auszulösen. Das Ereignis sei aufgrund der besonderen Aggressivität der Täter, der Bedrohung durch die Waffe und der Tatsache, dass sich die Versicherte bis dahin in absoluter Sicherheit gewogen habe, besonders traumatisierend gewesen. Weder aus der Akte noch aus der gutachterlichen Untersuchung lasse sich ein Hinweis auf eine prämorbide Schadensanlage ableiten. Auf den Unfall vom 28. Januar 2003 sei damit eine posttraumatische Belastungsstörung zurückzuführen. Arbeitsunfähigkeit infolge dieses Unfalls bestehe ab dem 10. Februar 2003 und dauere an. Eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme sei zu empfehlen. Die MdE schätzte sie mit 30 v. H. ein. Die Beklagte veranlasste eine stationäre medizinische Reh...

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