Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht. Merkzeichen "RF". Hemiplegie. Rollstuhlfahrerin. Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen. Benutzung von Windelhosen. Verstoß gegen die Menschenwürde/verneint. keine Unterscheidung zwischen Schwerbehinderten mit und ohne Harninkontinenz. Zuerkennung des Merkmals RF
Orientierungssatz
1. Die Unmöglichkeit der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen ist nur dann gegeben, wenn der Schwerbehinderte wegen seines Leidens ständig, das heißt allgemein und umfassend, vom Besuch ausgeschlossen ist, also allenfalls an einem nicht nennenswerten Teil der Gesamtheit solcher Veranstaltungen teilnehmen kann.
2. Dies ist bei einem harninkontinenten Rollstuhlfahrer nicht der Fall.
Tenor
Auf die Berufung des Beklagten werden das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 31. März 2010 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Außergerichtlichen Kosten für das Klage- und für das Berufungsverfahren sind nicht zu erstatten. Die mit Widerspruchsbescheid vom 2. März 2009 getroffene Kostenentscheidung bleibt hiervon unberührt.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht (Merkzeichen “RF„).
Die 1929 geborene Klägerin erlitt im Jahr 2003 einen Schlaganfall. Mit bestandskräftigem Bescheid vom 18. Februar 2004 stellte der Beklagte antragsgemäß einen Grad der Behinderung (GdB) von 80 und die Merkzeichen “B„ (Notwendigkeit ständiger Begleitung bei Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel) und “aG„ (außergewöhnlich gehbehindert) fest. Als Funktionsbeeinträchtigungen berücksichtigte er einen Hirninfarkt mit Halbseitenschwäche links (Einzel-GdB 80) und Herzrhythmusstörungen, Bluthochdruck (Einzel-GdB 10).
Am 12. Juni 2008 beantragte die Klägerin bei dem Beklagten unter anderem die Zuerkennung des Merkzeichens “RF„. Sie gab als Behinderungen und Leiden eine linksseitige Lähmung, eine Gleichgewichtsstörung sowie eine Überbelastung der rechten (Körper)Hälfte an. Als orthopädische Hilfsmittel verwende sie neben Rollstuhl und Gehstock einen Haltegriff am WC sowie ein elektrisches Bett. Der Beklagte holte einen Befundbericht bei dem die Klägerin behandelnden Hausarzt und Facharzt für Innere Medizin Dr. S ein. Diesen nebst Anlagen - Arztbrief des RMB vom 10. Januar 2008 und ein korrigierter Arztbrief der B Klinik vom 11. Oktober 2006 über eine stationäre neurologische Frührehabilitation vom 20. September 2006 bis zum 11. Oktober 2006 - legte der Beklagte der Ärztin für Allgemeinmedizin Dr. H vor, die mitteilte, eine Befundänderung liege nicht vor. Inkontinenz und psychische Auffälligkeiten würden nicht beschrieben, so dass die Zuerkennung des Merkzeichens “RF„ nicht begründet sei. Allerdings sei das Merkzeichen “T„ (Teilnahme am Sonderfahrdienst) zuzuerkennen. Mit Bescheid vom 29. September 2008 stellte der Beklagte den Gesamt-GdB weiter mit 80 und das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung der Merkzeichen “B„, “aG„ und “T„ fest. Die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens “RF„ lägen dagegen nicht vor.
Die Klägerin legte hiergegen Widerspruch ein. Sie brauche ständige Begleitung. Ganz besonders beim Gang zur Toilette brauche sie Hilfe mit der Kleidung, da sie keine Windeln tragen müsse, sondern die Toilette aufsuchen könne. Ihr Mann könne sie nicht begleiten, da er täglich rund um die Uhr mit ihr beschäftigt sei, dies auch in der Nacht, wenn sie auf die Toilette müsse. Zudem sei ihr Mann auch nicht mehr vollkommen gesund.
Der Beklagte forderte bei der Pflegekasse der Klägerin das Gutachten der Pflegefachkraft T zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit gemäß SGB XI vom 6. Februar 2006 (Begutachtungsdatum 19. Januar 2006) an. Danach liegen die Voraussetzungen zur Anerkennung einer Pflegebedürftigkeit nach Pflegestufe II (weiter) vor. In dem Gutachten heißt es, die linke Körperhälfte sei bei schlaffer Hemiparese links völlig funktionslos. Mit dem rechten Arm und der rechten Hand seien alle Griffe möglich. Bei mäßiger Kraft sei Greifen und Halten möglich. Aufstehen und Hinsetzen sei mit Abstützen möglich. Die Klägerin laufe mit Gehstock und 4-Punkt-Gehbock ein paar Schritte. Aufgrund von Gleichgewichtsstörungen mit Schwindel sei eine Begleitung nötig. Längere Wege würden mit Rollstuhl zurückgelegt. Sie könne sich, wenn sie in der Wohnung im Rollstuhl sitze, teilweise allein fortbewegen. Sie schiebe sich mit dem rechten Fuß vorwärts. Freies Stehen sei nicht möglich. Inkontinenz bestehe nicht. Im Denken wirke die Klägerin leicht verlangsamt. Sie müsse etwas länger überlegen, bevor sie Fragen beantworte. Sie sei in allen Bereichen orientiert, Gedächtnisstörungen lägen nicht vor. Aufgrund der Hemiplegie links sowie einer Adipositas sei eine Hilfestellung beim Aufstehen und Zu-Bett-Gehen erforderlich. Sie müsse an- und ausgekleidet und zu den gesetzlichen Verrichtungen zehn Mal täglich begleitet werden. Nachts brauche sie zwei Mal Hilfe auf den Toile...