Entscheidungsstichwort (Thema)

Krankenversicherung. gerichtliche Überprüfung der Nutzenbewertung eines Arzneimittels mit neuen Wirkstoffen. Statthaftigkeit der Feststellungsklage gegen untergesetzliche Normen im Rahmen der Rechtsschutzgarantie des Art 19 Abs 4 GG

 

Orientierungssatz

1. Die Rechtsschutzgarantie des Art 19 Abs 4 GG gebietet es, die Feststellungsklage nach § 55 Abs 1 Nr 1 SGG gegen untergesetzliche Normen grundsätzlich als statthaft zuzulassen, wenn der Normbetroffene ansonsten keinen effektiven Rechtsschutz erreichen kann, weil es ihm nicht zuzumuten ist, Vollzugsakte zur Umsetzung der untergesetzlichen Norm abzuwarten oder die Wirkung der Norm ohne anfechtbare Verwaltungsakte eintritt (vgl BSG vom 18.12.2012 - B 1 KR 34/12 R = BSGE 112, 257 = SozR 4-2500 § 137 Nr 2).

2. Der Nutzenbewertungsbeschluss von Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) gilt nach § 35a Abs 3 S 6 SGB 5 als Teil der Richtlinie nach § 92 Abs 1 S 2 Nr 6 SGB 5 (juris: AMRL) und stellt damit eine untergesetzliche Norm dar. § 35a Abs 8 SGB 5 schließt es ausdrücklich aus, gegen einen Nutzenbewertungsbeschluss direkt vorzugehen.

3. Der nachgelagerte Rechtsschutz ist dadurch gewährleistet, dass das pharmazeutische Unternehmen gegen den Schiedsspruch nach § 130b Abs 4 SGB 5 gerichtlich vorgehen kann. Inzident wird in diesem Verfahren auch der Nutzenbewertungsbeschluss (hier: Beschluss vom 27.11.2015 zur Änderung der Anl 12 AMRL - Nutzenbewertung des Wirkstoffs "Ivermectin") des G-BA überprüft (vgl LSG Berlin-Potsdam vom 23.12.2015 - L 1 KR 550/15 KL ER).

4. Damit ist die Auslegung der Tatbestandsvoraussetzungen "erstattungsfähiges Arzneimittel mit neuem Wirkstoff" in § 35a Abs 1 S 1 und 2 SGB 5 unter Beachtung der Bestimmungen der Arzneimittel-Nutzenbewertungsverordnung (AM-NutzenV) gerichtlich voll überprüfbar (vgl LSG Berlin-Potsdam vom 25.1.2018 - L 1 KR 295/14 KL = juris RdNR 141).

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 10.09.2020; Aktenzeichen B 3 KR 11/19 R)

 

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens

Die Revision wird nicht zugelassen.

Der Verfahrensstreitwert wird auf 1.021.999,93 € festgesetzt.

 

Tatbestand

Im Streit ist der Beschluss des Beklagten vom 27. November 2015 über eine Änderung der Arzneimittel-Richtlinie (Am-RL) durch Ergänzung der Anlage XIII- Beschlüsse über die Nutzenbewertung von Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen nach § 35a SGB V Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (§ 35a SGB V)- um den Wirkstoff Ivermectin.

Die Klägerin ist die deutsche Tochtergesellschaft eines weltweit tätigen pharmazeutischen Unternehmens und vertrieb seit Juni 2015 das Arzneimittel Soolantra® Creme mit diesem Wirkstoff. Zugelassen ist es in Deutschland seit 29. April 2015 zur topischen Behandlung von entzündlichen Läsionen der (papulopustulösen) Rosazea.

Die Klägerin reichte am 17. Dezember 2015 beim hiesigen Gericht einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ein, bis zur Vorlage einer Entscheidung in einem Hauptsacheverfahren vorläufig festzustellen, dass die mit Beschluss vom 27. November 2015 durch den Beklagter vorgenommene Änderung der Anlage XII der Arzneimittel-Richtlinie zur Nutzenbewertung des Wirkstoffes Ivermectin (Soolantra®) unwirksam ist.

Am 22. Dezember 2015 hat sie die hier streitgegenständliche korrespondierende Klage auf entsprechende Feststellung erhoben.

Sie ist der Auffassung, die Vorgehensweise des Beklagten sei ein offensichtlicher und evidenter Rechtsverstoß, weil es an der Grundvoraussetzung der vorläufigen Nutzenbewertung nach § 35a SGB V eines neuen Wirkstoffes fehle.

Ivermectin sei vor fast 30 Jahren entdeckt worden und diene seither der Behandlung der Krätze (Scabies) und anderer Erkrankungen. In Europa sei 1999 der Wirkstoff 1999 in Frankreich im Arzneimittel Soolantra® zur Behandlung der Krätze zugelassen worden, ferner 2003 als Stromectol® in den Niederlanden.

Der evident rechtswidrige Beschluss stelle für sie einen schwerwiegenden Eingriff in die durch Art. 12 Abs. 1 Grundgesetz (GG) geschützte Betätigungsfreiheit dar, weil er eine vollständige Preisregulierung zur Folge habe und die Freiheit, den Preis für die eigenen Waren und Leistungen eigenverantwortlich festlegen zu können, zum Kernbereich der Privatautonomie gehöre.

Es drohten auch schwerwiegende irreparable wirtschaftliche Nachteile. Die Klägerin sei nämlich gezwungen, aufgrund § 4 Abs. 1 der Rahmenvereinbarung nach § 130b Abs. 9 SGB V zwischen dem GKV-Spitzenverband -GKV-Spitzenverband- und dem Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller e.V., dem Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie e.V., dem Pro Generika e.V., dem Verband Forschender Arzneimittelhersteller e.V., - Verbände der pharmazeutischen Unternehmer (RahmenV) zur Vereinbarung eines Rabattes gezwungen. Dies habe weitreichende Folgen für den Arzneimittelabsatz in anderen europäischen Ländern, die direkt oder indirekt die Preise nach dem deutschen festlegten („referenzieren“).

Aufgrund der drohenden irreparablen Nachteile bei offensicht...

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