Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopfer. aggressives Bedrängen und Auflauern durch rechte Schlägergruppe. Hämmern an der Tür und Drohung mit erheblicher Gewaltanwendung. kein tätlicher Angriff. posttraumatische Belastungsstörung. schwerwiegendes Trauma. Verneinung der objektiven Voraussetzungen bei subjektivem Empfinden. keine Gewaltopferentschädigung
Leitsatz (amtlich)
1. Die bloße Drohung mit einer, wenn auch erheblichen Gewaltanwendung oder Schädigung, reicht für einen tätlichen Angriff nicht aus. Denn dieser Umstand allein stellt über die psychische Wirkung hinaus noch keinen tatsächlichen physischen "Angriff" dar, der aber notwendig ist, um von einem tätlichen Angriff ausgehen zu können (Anschluss an BSG vom 16.12.2014 - B 9 V 1/13 R = BSGE 118, 63 = SozR 4-3800 § 1 Nr 21).
2. Bei den Ausführungen in einem Bescheid, dass eine Schädigungsfolge hervorgerufen durch schädigende Einwirkungen im Sinne des § 1 OEG sei, handelt es sich bezogen auf das Vorliegen eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs nur um ein unselbständiges Begründungselement, das nicht der Bestandskraft fähig ist (Anschluss an BSG vom 11.3.1998 - B 9 VG 3/96 R = SozR 3-3800 § 2 Nr 8).
3. Bei der Beurteilung des Grades der MdE/des GdS sind die von dem Versorgungsträger als Schädigungsfolgen bestandskräftig anerkannten Gesundheitsstörungen zu berücksichtigen; an diese rechtlich selbständigen Feststellungen ist der Versorgungsträger ebenso gebunden wie das Gericht; auf deren Rechtmäßigkeit kommt es insoweit nicht an.
Orientierungssatz
1. Das BSG hat mit der Entscheidung vom 16.12.2014 - B 9 V 1/13 R aaO (Scheinwaffe) wohl auch seine Rechtsprechung aufgegeben, nach der ein tätlicher Angriff im Sinne des § 1 Abs 1 OEG bereits vorlag, wenn der Täter ein gewaltsames Einwirken auf den Körper des Opfers erst angedroht, aber schon mit der gewaltsamen Beseitigung von Hindernissen für die Verwirklichung der Drohung begonnen hatte, so dass auch ein objektiver Dritter mit der unmittelbar bevorstehenden Tötung oder ernstlichen Verletzung des Opfers rechnen würde (vgl BSG vom 10.9.1997 - 9 RVg 1/96 = BSGE 81, 42 = SozR 3-3800 § 1 Nr 11).
2. Das mit hämmernden Schlägen an die Klassentür verbundene aggressive Belagern eines jüdischen Lehrers durch drei Jugendliche mit rechter Gesinnung (bekleidet mit Bomberjacken und schweren Stiefeln), welche den Lehrer auffordern, herauszukommen, und ihm Schläge androhen sowie das Auflauern auf dem ausgekundschafteten Arbeitsweg ankündigen, erfüllt nicht die objektiven Anforderungen für ein schwerwiegendes Trauma als Voraussetzung für eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), mag es subjektiv vom Betroffenen (der im direkten Anschluss über 6 Monate lang arbeitsunfähig erkrankt ist) auch so empfunden worden sein.
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 11. April 2019 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander auch nicht für das Berufungsverfahren zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG).
Der 1961 auf dem Gebiet der heutigen Ukraine geborene Kläger ist jüdischen Glaubens. Seit November 2004 war er als Musiklehrer an einer Gesamtschule in N angestellt. Am 9. Dezember 2004 ereignete sich gegen 13:20 Uhr ein Ereignis, das der Kläger in einer polizeilichen Anzeige wie folgt beschrieb: Während er in der 6. Unterrichtsstunde eine 7. Klasse unterrichtet habe, habe es an die von außen mit einem nicht öffnenden Knauf versehene Tür zum Klassenzimmer geklopft. Darauf habe er zunächst einen Schüler zum Nachsehen geschickt und sich nachfolgend selbst zur Tür gegeben, da fremde Personen ihn zu sprechen verlangt hätten. Vor der Tür hätten drei männliche Jugendliche, welche mit schweren Stiefeln und sogenannten Bomberjacken bekleidet gewesen seien, gestanden. Diese hätten den Kläger aufgefordert, zu ihnen herauszukommen, da sie Fragen an ihn hätten. Der Kläger habe erklärt, dass er Unterricht habe und nicht gestört werden wolle. Der Jugendliche, der gesprochen habe, sei aufdringlicher geworden und habe sich dicht in Richtung des Klägers bewegt, der daraufhin die Tür geschlossen habe. Es sei dann erneut an die Tür gehämmert worden. Der Kläger habe die Tür nur ein Stück weit geöffnet, sei herausgetreten und habe gefragt, worum es gehe. Der Wortführer der Gruppe habe ihm vorgeworfen, sich über „Rechte“ lustig zu machen; der Kläger habe in der Vergangenheit gesagt, wenn er Rechte sehe, dann schneide er ihnen „die Eier ab“. Dabei sei er zunehmend aggressiver geworden. Der Kläger habe dann der Gruppe mitgeteilt, dass sie die Schule sofort zu verlassen hätten. Der Wortführer habe gesagt, dass er wisse, wer er, der Kläger, sei, und dass er seinen Weg zur Schule und zurück kenne und ihn finden werde. Daraufhin habe der Kläger die Tür geschlossen, wobei er einen Widerstand von außen bemerkt habe. Es habe laute Schläge gegen die Tür gege...