Entscheidungsstichwort (Thema)

Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto. Vorrang zwischenstaatlicher Vereinbarungen. Verfassungsmäßigkeit

 

Orientierungssatz

1. Die zwischenstaatlichen Vereinbarungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen (hier: Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über Soziale Sicherheit vom 8.12.1990 - juris Abk SozSichAbk POL - und dem Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über Renten- und Unfallversicherung vom 9.10.1975 - juris Abk RV/UVAbk POL) haben Vorrang vor dem ZRBG.

2. Auch nach der ab 1.5.2010 geltenden EGV 883/2009 bleibt das RV/UVAbk POL unter den in Art 27 Abs 2 bis 4 des SozSichAbk POL festgelegten Bedingungen durch eine Übergangsregelung zur Wahrung der Rechtssicherheit uneingeschränkt weiterhin in Kraft und besitzt Rechtsgültigkeit.

3. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Bestimmungen des Abkommensrechts bestehen nicht.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 10.07.2012; Aktenzeichen B 13 R 17/11 R)

 

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 13. Dezember 2007 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt von der Beklagten Regelaltersrente unter Berücksichtigung des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG).

Die 1931 in , geborene Klägerin ist Verfolgte des Nationalsozialismus. In der Zeit von 1940 bis 1943 hielt sie sich im Ghetto von und in der Folgezeit bis heute als p Staatsangehörige gewöhnlich in W auf.

Am 27. Juni 2003 beantragte sie bei der Beklagten die Gewährung einer Regelaltersrente unter Berücksichtigung von Beitragszeiten nach dem ZRBG für die von ihr während des Aufenthaltes im Ghetto von W zurückgelegten Zeiten einer Beschäftigung.

Mit Bescheid vom 01. September 2003 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin ab. Sie habe ihren ständigen Wohnsitz über den 31. Dezember 1990 hinaus noch in P. Deshalb sei nach dem hier maßgeblichen Deutsch-P Sozialversicherungsabkommen von 1975 der p Rentenversicherungsträger für etwaige Ghetto-Beitragszeiten zuständig. Eine Berücksichtigung dieser Zeiten in der deutschen Rente sei im Übrigen auch im Hinblick auf § 1 Abs. 1 Satz 1 letzter Halbsatz ZRBG ausgeschlossen, weil entsprechende Zeiten regelmäßig bereits nach innerstaatlichem p Recht als Versicherungszeiten berücksichtigt würden.

Dagegen erhob die Klägerin am 18. November 2003 (Eingangsdatum) Widerspruch mit der Begründung, durch die Bestimmungen des ZRBG bezüglich des betreffenden Personenkreises liege eine Ungleichbehandlung gegenüber den übrigen, außerhalb P lebenden Anspruchsberechtigten vor.

Mit Widerspruchsbescheid vom 16. Januar 2004 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Für Personen, die - wie die Klägerin - ihren gewöhnlichen Aufenthalt am 31. Dezember 1990 in P gehabt hätten, sei das Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik über Soziale Sicherheit vom 08. Dezember 1990 (DPSVA 1990) anzuwenden. Gemäß Art. 27 Abs. 2 des DPSVA 1990 gelte für die weitere Dauer des Aufenthalts in der Republik P das “alte„ Deutsch-P Rentenabkommen vom 09. Oktober 1975 (DPSVA 1975) weiter. Nach Art. 4 Abs. 1 i. V. m. Abs. 2 DPSVA 1975 würden Renten allein vom Träger des Aufenthaltsortes gezahlt, wobei dieser Träger dann die nach dem Recht des anderen Staates erworbenen Versicherungszeiten nach seinen Rechtsvorschriften im Rahmen des Integrationsprinzips anzurechnen habe. Dies gelte ebenfalls für die Erbringung einer Ermessensleistung im Sinne des ZRBG nach Art. 16 Abs. 2 Satz 1 DPSVA 1975. Da die Klägerin ihren gewöhnlichen Aufenthalt über den 31. Dezember 1990 hinaus bis aktuell noch ständig in P habe, fänden die vorgenannten Rechtsvorschriften uneingeschränkte Anwendung. Ausgehend von diesen Regelungen sei es ihr als deutschem Rentenversicherungsträger verwehrt, eine Rente aus Ghetto-Beitragszeiten nach P zu erbringen. Ob bereits eine Leistung aus einem ausländischen System der sozialen Sicherheit erbracht werde und insoweit gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 ZRBG das ZRBG ohnehin keine Anwendung fände, könne daher offen bleiben. Inwieweit durch die angewandte Regelung des ZRBG eine Ungleichbehandlung der Klägerin bzw. des betreffenden Personenkreises gegenüber den übrigen, außerhalb P lebenden Anspruchsberechtigten vorliegen soll, habe sie nicht zu erkennen vermocht.

Am 16. Februar 2004 hat die Klägerin bei dem Sozialgericht Berlin Klage erhoben und ihr Begehren weiter verfolgt. Die Beklagte habe es unterlassen, beim p Versicherungsträger anzufragen, ob die von ihr geltend gemachte Ghetto-Beitragszeit in der p Rente überhaupt abgegolten werde. Hieran bestünden Zweifel, denn das p Gesetz vom 17. Oktober 1991 bestimme, dass als Beitragszeiten u. a. Zeiten der Zwangsarbeit während des Zweiten Weltkrieges für Hitler-Deutschland gelten. Da sie eine Ghetto-Beschäfti...

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