Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Antragserfordernis. Antragstellung beim unzuständigen Leistungsträger. Antrag auf Arbeitslosengeld II. wiederholte Antragstellung nach § 28 SGB 10
Leitsatz (amtlich)
Ein Antrag auf Arbeitslosengeld nach dem SGB III umfasst nicht grundsätzlich einen Antrag auf Arbeitslosengeld nach dem SGB II (Anschluss an BSG vom 2.4.2014 - B 4 AS 29/13 R = BSGE 115, 225 = SozR 4-4200 § 37 Nr 6).
Orientierungssatz
§ 28 SGB 10 findet keine Anwendung auf Fälle, in denen die beantragte andere Sozialleistung - hier das Arbeitslosengeld nach dem SGB 3 - nicht versagt worden ist, sondern bewilligt wurde und nur nicht ausreicht, um den Lebensunterhalt sicherzustellen.
Tenor
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 4. Dezember 2020 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind im gesamten Verfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Im Streit steht die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für den Zeitraum vom 1. Oktober 2019 bis 30. November 2019.
Die Klägerin war bis zum 30. September 2019 als Bauzeichnerin bei der S GmbH sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Nach einer Kündigung durch ihren Arbeitgeber am 26. August 2019 meldete sich sie sich am 27. August 2019 bei der zuständigen Arbeitsagentur zum 1. Oktober 2019 arbeitslos und beantragte Arbeitslosengeld (Alg), das ihr mit Bescheid vom 29. Oktober 2019 für 360 Kalendertage ab dem 1. Oktober 2019 bewilligt wurde (täglicher Leistungsbetrag i.H.v. 27,43 €). Ausweislich eines Vermerks der Bundesagentur für Arbeit (BA) wurde der Klägerin bei ihrer persönlichen Vorsprache am 27. August 2019 das Merkblatt 1 ausgehändigt. Der nächste Kontakt mit der BA fand im Mai 2020 statt. Am 6. November 2019 beantragte die Klägerin Wohngeld, das ihr rückwirkend für den Monat November 2019 i.H.v. 95,- € ausgezahlt wurde. Am 16. Dezember 2019 stellte sie zudem einen Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) bei dem Beklagten mit der Begründung, das Alg reiche nicht aus.
Mit Bescheid vom 23. Dezember 2019 bewilligte der Beklagte der Klägerin Alg II-Leistungen für den Zeitraum vom 1. Dezember 2019 bis zum 30. November 2020 ausgehend von einem Regelbedarf i.H.v. 424,- € und Kosten der Unterkunft und Heizung (KdUH) i.H.v. 531,42 €, mithin insgesamt 955,42 €. Als monatliches Einkommen berücksichtigte der Beklagte einen Betrag i.H.v. 792,90 € (= Alg i.H.v. 822,90 € abzügl. Absetzbetrag i.H.v. 30,- €). Mit ihrem Widerspruch beantragte die Klägerin die rückwirkende Leistungsbewilligung ab Oktober 2019 mit der Begründung, sie sei weder von der BA noch von dem Beklagten über die Möglichkeit informiert worden, dass sie neben dem Antrag auf Alg vorsorglich auch einen Antrag auf Alg II hätte stellen können. Das Merkblatt Alg II / Sozialgeld enthalte keine Aussagen hierzu. Den Alg-Bescheid habe sie im November erhalten. Erst dann habe sie feststellen können, dass das ihr bewilligte Alg zum Leben nicht ausreiche. Der Beklagte wies den Widerspruch zurück (Widerspruchsbescheid vom 31. Januar 2020). Zur Begründung führte er an, Leistungen würden nicht für die Zeit vor der Antragstellung erbracht. Ein Beratungsfehler liege nicht vor. Bei der persönlichen Arbeitslosmeldung bei der BA sei der Klägerin das Merkblatt 1 ausgehändigt worden. In Ziffer 4 werde auf die Möglichkeit einer Berechnung der Höhe des Alg-Anspruchs hingewiesen. Aus Ziffer 4.4 ergebe sich, dass bei geringem Alg-Anspruch Leistungen nach dem SGB II beantragt werden könnten. Im Übrigen habe die Klägerin den Alg-Bewilligungsbescheid bereits Anfang November 2019 erhalten. Von daher sei nicht nachvollziehbar, weshalb sie erst Mitte Dezember Alg II beantragt habe.
Ihre Klage hat die Klägerin im Wesentlichen damit begründet, das Merkblatt 1 nicht erhalten zu haben. In der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht (SG) Berlin hat sie vorgetragen: Sie habe wegen eines früheren Bezuges von Alg II noch in Erinnerung gehabt, dass erst vorrangige Leistungen beansprucht werden müssten, bevor es Alg II gebe. Daher habe sie erst Alg und dann Wohngeld beantragt. Vor Erlass des Wohngeldbescheides sei ihre finanzielle Situation aber so schlecht gewesen, dass sie zum Beklagten habe gehen müssen. Das SG hat der Klage stattgegeben und den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 23. Dezember 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. Januar 2020 verurteilt, der Klägerin „mit Wirkung ab“ 1. Oktober 2019 „Leistungen nach dem SGB II zu gewähren“ (Urteil vom 4. Dezember 2020). Zur Begründung hat das SG im Wesentlichen ausgeführt: Die Klägerin sei nach ihrem glaubhaften Vortrag davon ausgegangen, dass möglichst die vorrangigen Leistungen in Anspruch genommen werden müssten. Gleichzeitig habe sie alle Leistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts in Anspruch nehmen wollen. Ihr...