Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht. Merkzeichen G. erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr. schwere psychische Störung. Schmerzstörung. Versorgungsmedizinische Grundsätze. Regelbeispiele. andere Erkrankung. gleich schwere Auswirkungen auf die Gehfunktion. Vergleichsmaßstab. Diskriminierungsverbot
Orientierungssatz
1. Anspruch auf den Nachteilsausgleich G hat - über die in Teil D Nr 1 Buchst d bis f der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VMG) genannten Regelbeispiele hinausgehend - auch der schwerbehinderte Mensch, der nach Prüfung des einzelnen Falles aufgrund anderer Erkrankungen mit gleich schweren Auswirkungen auf die Gehfunktion und die zumutbare Wegstrecke dem beispielhaft aufgeführten Personenkreis gleichzustellen ist. Denn der umfassende Behindertenbegriff iS des § 2 Abs 1 SGB 9 2018 gebietet im Lichte des verfassungsrechtlichen als auch des unmittelbar anwendbaren UN-konventionsrechtlichen Diskriminierungsverbots die Einbeziehung aller körperlichen, geistigen und seelischen Beeinträchtigungen. Den nicht erwähnten Behinderungen sind die Regelbeispiele als Vergleichsmaßstab zur Seite zu stellen.
2. Damit kommt als Ursache des eingeschränkten Gehvermögens auch eine schwere psychische Störung in Form einer Schmerzstörung, die zu einer ausgeprägten Somatisierung führt, in Betracht.
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 6. März 2018 geändert.
Der Beklagte wird unter Änderung des Bescheides vom 2. Februar 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. März 2016 verpflichtet, bei dem Kläger das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen G mit Wirkung ab dem 1. März 2019 festzustellen.
Der Beklagte hat dem Kläger dessen notwendige außergerichtliche Kosten des gesamten Verfahrens zu 1/3 zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligen streiten über die Zuerkennung des Merkzeichens G.
Der 1966 geborene Kläger, bei dem 2015 ein Grad der Behinderung (GdB) von 50 festgestellt worden war, stellte am 9. November 2015 einen Neufeststellungsantrag, mit dem er auch das Merkzeichen G begehrte. Nach versorgungsärztlicher Auswertung der vorliegenden medizinischen Unterlagen lehnte der Beklagte den Antrag mit Bescheid vom 2. Februar 2016 ab. Auf den Widerspruch des Klägers stellte er mit Widerspruchsbescheid vom 14. März 2016 einen GdB von 60 fest, blieb jedoch bei der Versagung des Merkzeichens G. Hierbei legte er zuletzt folgende Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde:
1. Funktionsbehinderung der Wirbelsäule mit Muskel- und Wurzelreizerscheinungen bei Bandscheibenschäden, degenerative Veränderungen der Wirbelsäule (Spinalkanal), außergewöhnliche Schmerzreaktion (Einzel-GdB von 40),
2. coronare Herzkrankheit, abgelaufener Herzinfarkt, Coronardilatation/Stent (Einzel-GdB von 30),
3. depressive Störung, psychische Störungen (Einzel-GdB von 20),
4. Funktionsbehinderung der Finger rechts (Einzel-GdB von 10),
5. Reizmagen (Einzel-GdB von 10).
Mit der Klage bei dem Sozialgericht Berlin hat der Kläger die Zuerkennung des Merkzeichens G begehrt. Das Sozialgericht hat neben Befundberichten das Gutachten des Facharztes für Orthopädie Dr. W vom 1. November 2017 eingeholt, der die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens G verneint hat. Dem Gutachten folgend hat das Sozialgericht mit Urteil vom 6. März 2018 die Klage abgewiesen.
Mit der Berufung gegen diese Entscheidung hat der Kläger sein Begehren zunächst weiterverfolgt.
Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung des Gutachtens der Fachärztin für Neurologie Dr. H vom 7. März 2019, die nach Untersuchung des Klägers zu der Einschätzung gelangt ist, dass eine erhebliche Gehbehinderung vorliegt.
In der mündlichen Verhandlung vom 21. November 2019 hat der Kläger sein Begehren auf den Zeitraum ab dem 1. März 2019 beschränkt und im Übrigen die Berufung zurückgenommen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 6. März 2018 aufzuheben und den Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 2. Februar 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. März 2016 zu verpflichten, bei ihm das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen G mit Wirkung ab dem 1. März 2019 festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.
Dem Senat haben die Verwaltungsvorgänge des Beklagten vorgelegen. Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze, das Protokoll und die Verwaltungsvorgänge des Beklagten.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung des Klägers ist, soweit er sie fortführt, begründet.
Der Kläger hat ab dem 1. März 2019 Anspruch Zuerkennung des Merkzeichens G.
Gemäß § 228 Abs. 1 Satz 1 SGB IX haben schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind, Anspruch auf u...