Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren: Anforderungen an die Klärung des Sachverhalts als Voraussetzung des Erlasses eines Gerichtsbescheids. Umfang der Amtsermittlungspflicht bei einem medizinischen Sachverhalt
Orientierungssatz
1. Der Erlass eines Gerichtsbescheides im sozialgerichtlichen Verfahren setzt voraus, dass das Gericht nicht nur seiner Pflicht zur umfassenden Sachverhaltsaufklärung nachgekommen ist, sondern der entscheidungserhebliche Sachverhalt für die Prozessbeteiligten erkennbar und ohne ernstliche Zweifel an seiner Richtigkeit durch das Gericht dargelegt werden kann.
2. Bei einem medizinisch geprägten Sachverhalt (hier: Ermittlung des Gesamt-GdB) genügt ein Gericht regelmäßig nicht schon dadurch dem Amtsermittlungsgrundsatz, dass es die vorhandenen Befundberichte der behandelnden Ärzte auswertet. Vielmehr ist zur Aufklärung eines Sachverhalts in medizinischer Hinsicht regelmäßig die Einholung eines Sachverständigengutachtens geboten.
3. Einzelfall zur Bewertung der ausreichenden Sachverhaltsaufklärung durch das Sozialgericht bei einem medizinisch gelagerten Sachverhalt in einem Rechtsstreit um die Zuerkennung eines höheren GdB.
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 7. Mai 2012 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung - auch über die Kosten des Berufungsverfahrens - an das Sozialgericht Berlin zurückverwiesen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Höhe des Grades der Behinderung (GdB).
Der aus der Türkei stammende Kläger wurde im August 2006 Opfer eines gegen ihn gerichteten tätlichen Angriffs. Das Landesamt für Soziales und Versorgung, Außenstelle Cottbus hat mit Bescheid vom 2. Juli 2007 die Gewährung einer Verletztenrente nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) mit der Begründung abgelehnt, dass die hierdurch bedingten Gesundheitsstörungen - Narbe oberhalb vom linken Auge, vorübergehend bestandene Metallstabilisierung der Gesichtsknochen, Schwellungen im Gesicht mit örtlichen Empfindungsstörungen, Sehstörung des linken Auges - keine Minderung der Erwerbsfähigkeit (nunmehr: Grad der Schädigungsfolgen) von wenigstens 25 v.H. bedingten.
Am 21. Dezember 2007 beantragte der Kläger bei dem Beklagten die Feststellung des GdB. Nach Auswertung der eingeholten medizinischen Unterlagen stellte der Beklagte mit Bescheid vom 19. November 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Juli 2009 bei dem Kläger einen GdB von 40 fest. Dieser Entscheidung legte er folgende (verwaltungsintern mit den aus den Klammerzusätzen ersichtlichen Einzel-GdB bewertete) Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde:
a) nach dem OEG anerkannte Schädigungsfolgen (20),
b) Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Spinalkanalstenose, Nervenwurzelreizerscheinungen der Wirbelsäule (30),
c) psychische Störungen (Neurosen) (10).
Mit der Klage bei dem Sozialgericht Berlin hat der Kläger die Feststellung eines höheren GdB begehrt. Das Sozialgericht hat Befundberichte der den Kläger behandelnden Ärzte, der Nervenärztin Dipl. med. F vom 7. Dezember 2010, der Augenärztin R vom 14. Dezember 2010, des Orthopäden K vom 11. Januar 2011, der Urologin Dr. N vom 14. Januar 2011 und des Internisten S vom 29. Januar 2011, eingeholt. Der Beklagte hat das von ihm veranlasste Gutachten des Augenarztes Dr. D vom 2. August 2011 vorgelegt.
Das Sozialgericht hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 7. Mai 2012 abgewiesen. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB als 40. Nach den eingeholten Befundberichten der den Kläger behandelnden Ärzte und dem augenärztlichen Gutachten erscheine vielmehr ein GdB von 30 als maximale Bewertung.
Mit der Berufung verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Eine Begründung hat er bislang nicht eingereicht.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 7. Mai 2012 aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht Berlin zurückzuverweisen,
hilfsweise,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 7. Mai 2012 aufzuheben und den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 19. November 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Juli 2009 zu verpflichten, bei ihm ab dem 21. Dezember 2007 einen Grad der Behinderung von 50 festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die Entscheidung des Sozialgerichts für zutreffend.
Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung des Klägers ist im Sinne einer Zurückverweisung begründet.
Die Zurückverweisung beruht auf § 105 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG in der seit dem 1. Januar 2012 geltenden Fassung des Art. 8 Nr. 8a des Vierten Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches...