Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitsunfall. Verletztenrente. Zugführer. Selbsttötung. Posttraumatische Belastungsstörung. Verschiebung der Wesensgrundlage. Anforderungen an ein Sachverständigengutachten zur Anerkennung psychischer Gesundheitsstörungen als folge eines Arbeitsunfalls
Orientierungssatz
1. Voraussetzung für die Anerkennung von psychischen Gesundheitsstörungen als Unfallfolge und die Gewährung einer Verletztenrente ist zunächst die Feststellung der konkreten Gesundheitsstörungen, die bei dem Verletzten vorliegen und seine Erwerbsfähigkeit mindern.
2. Zur Anerkennung psychischer Gesundheitsstörungen als Folgen eines Arbeitsunfalls ist eine Auseinandersetzung mit konkurrierenden Kausalfaktoren zwingend erforderlich. Unterbleibt diese, obwohl hinreichende Anhaltspunkte für deren Vorliegen vorhanden sind, so ist ein entsprechendes Sachverständigengutachten als Entscheidungsgrundlage ungeeignet.
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 30. Oktober 2007 wird zurückgewiesen.
Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt von der Beklagten die Gewährung einer Verletztenrente nach einer MdE von wenigstens 50 v.H. aufgrund eines Arbeitsunfalls vom 20. März 2003.
Der 1965 geborene Kläger war seit Oktober 1994 bei den B Verkehrsbetrieben zuletzt vor dem Unfall als Zugfahrer beschäftigt. Am 6. November 2003 nahm er eine Tätigkeit als Verkaufsschaffner auf. Bis zum 2. November 2003 hatte er Verletztengeld aufgrund des Unfalls vom 20. März 2003 bezogen.
Am 12. Juni 1998 erlitt der Kläger einen Arbeitsunfall, der in der Unfallanzeige vom 24. Juni 1998 wie folgt beschrieben wird: Der Kläger leistete seinen Dienst als Zugführer auf der U-Bahnlinie U 8. Vor der Einfahrt in den U-Bahnhof stand eine unbekannte männliche Person 5-7 m links vom Gleis 1. Als der Kläger mit seinem Zug näher kam, bewegte sich die Person in selbstmörderischer Absicht auf sein Gleis zu und wurde vom Zug erfasst und überrollt. Die Person wurde tot geborgen. Der Kläger wurde wegen Schockeinwirkung ins Krankenhaus gebracht. Arbeitsunfähigkeit wegen dieses Unfalls bestand bis zum 2. August 1998.
Am 20. März 2003 leistete der Kläger Dienst als Zugführer. Bei der Einfahrt in den U-Bahnhof “Plag eine unbekannte männliche Person auf den Gleisen und wurde vom Zug des Klägers überrollt. Die Person wurde tot geborgen. Die Beklagte gewährte dem Kläger Leistungen aufgrund dieses Unfalls in Form von Verletztengeld sowie Heilbehandlung und veranlasste die Begutachtung des Klägers durch den Neurologen und Psychiater Dr. H. Dieser führte in seinem Gutachten vom 21. Juli 2003 unter anderem aus, bei dem Kläger sei eine depressive Struktur vorhanden im Sinne einer anankastisch depressiven Persönlichkeitsstruktur, wobei eine emotional defizitäre Sozialisation bei durchaus sensibler und differenzierter Struktur komplizierend wirksam werde. Es sei durch das Ereignis vom 20. März 2003, vor allen Dingen auch auf dem Hintergrund des Vorbefundes von 1998, zu einer Dekompensation gekommen, die als posttraumatische Belastungsreaktion verstanden werden könne. Auch Ansätze eines posttraumatischen Belastungssyndroms würden in diesem Kontext durchaus nachvollziehbar erscheinen, da die A-Kriterien erfüllt sein dürften. Hintergrund und Entwicklung würden jedoch nach der hiesigen diagnostischen Abklärung die oben formulierte Einordnung gestatten, so dass jetzt nicht mehr mit überwiegend ereigniskorrelierter Problematik zu argumentieren sei. Unfallunabhängig liege die beschriebene Persönlichkeitsstruktur vor. Der Kläger fühle sich in der Großstadt im Allgemeinen nicht so wohl. Am liebsten wolle er wieder nach Hause in die Türkei aufs Land, sich bescheiden und sich dort selbst ernähren. Seine Ehefrau unterstütze seine Wünsche und Vorstellungen aber nicht. Er wolle aber ohne sie und die Kinder nichts entscheiden. Die Durchführung weiterer Psychotherapie sei erforderlich, die aber nach Möglichkeit genau strukturiert sein solle und nicht auf eine Verarbeitung des Unfallereignisses ausgerichtet empfohlen werde, da der Kläger für sich entschieden habe, nicht mehr als U-Bahn-Zugführer tätig zu werden. Durch eine traumaspezifische Therapie würde seine ohnehin ambivalente Position wieder labilisiert und verstärkt, so dass dies nicht vorgeschlagen werden könne. Langfristig sei aber eine Therapie aufgrund der aufgezeigten unfallunabhängigen Aspekte erforderlich. Die unfallbedingte Behandlung solle nach 10 bzw. 15 Sitzungen als abgeschlossen betrachtet werden und dann in die eigentliche unfallunabhängige Aufarbeitung der zu Grunde liegenden Problematik einmünden. Die Arbeitsunfähigkeit solle bis zu diesem Übergangszeitpunkt unfallbedingt gesehen werden. Eine MdE sei nicht zu begründen.
Mit Schreiben vom 17. Dezember 2004 wandte sich der Kläger an die Beklagte und begehrte die Feststellung einer (rentenberechtigenden) MdE. Die Beklagte veranlasste daraufhin die Begutachtung ...