Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht: Festsetzung von Einzel-GdB. Bildung des Gesamt-GdB. Berücksichtung von mit einem Einzel-GdB von 20 bewerteten Funktionsbeeinträchtigungen bei der Bildung des Gesamt-GdB
Orientierungssatz
1. Ist die Schmerzwahrnehmung durch ein psychisches Leiden (hier: neurasthenisches Syndrom) erhöht, so ist ausnahmsweise die Erhöhung eines Gesamt-GdB auf der Grundlage einer schmerzbegleiteten Funktionsbeeinträchtigung (hier: Wirbelsäulenschaden) gerechtfertigt, auch wenn der Einzel-GdB für die Funktionsbeeinträchtigung nur mit 20 anzusetzen ist.
2. Einzelfall zur Ermittlung von Einzel-GdB und eines Gesamt-GdB.
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 8. April 2008 wird zurückgewiesen. Die weitergehende Klage wird abgewiesen.
Eine Kostenerstattung findet auch für das Verfahren vor dem Landes-sozialgericht nicht statt.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Höhe des Grades der Behinderung (GdB).
Der Beklagte hatte bei dem 1957 geborenen Kläger zuletzt 2002 einen GdB von 50 festgestellt. Dessen Verschlimmerungsantrag vom 18. August 2004 lehnte er nach versorgungsärztlicher Auswertung der eingeholten ärztlichen Unterlagen mit Bescheid vom 2. Februar 2005 ab. Auf den Widerspruch des Klägers zog der Beklagte verschiedene im Rentenverfahren erstattete Gutachten bei. Auf der Grundlage der gutachterlichen Äußerung des Praktischen Arztes B vom 14. März 2005 und der prüfärztlichen Stellungnahme wies der Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 20. April 2005 zurück. Dem legte er folgende (verwaltungsintern mit den aus den Klammerzusätzen ersichtlichen Einzel-GdB bewertete) Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde:
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a) seelisches Leiden (30), |
b) essentieller Tremor, DBS-Stimulator-Implantation beidseits (30), |
c) Schlafapnoesyndrom (20), |
d) Bluthochdruck, Übergewicht, Fettstoffwechselstörung, Herzrhythmusstörungen (10). |
Mit der Klage bei dem Sozialgericht Berlin hat der Kläger die Feststellung eines GdB von mindestens 60 begehrt. Das Sozialgericht hat diverse medizinische Unterlagen, u.a. das im Rentenstreitverfahren eingeholte Gutachten des Nervenarztes Dr. B vom 4. Oktober 2005 und das für die Agentur für Arbeit Berlin Nord erstattete Gutachten der Nervenärztin Dr. W vom 30. Oktober 2006, beigezogen.
Mit Urteil vom 8. April 2008 hat es die Klage abgewiesen: Eine wesentliche Veränderung in den tatsächlichen Verhältnissen, welche die Feststellung eines GdB von mehr als 50 erforderlich machen würde, sei nicht eingetreten. Aus den nervenärztlichen Gutachten ergebe sich, dass das seelische Leiden des Klägers in den unteren Bereich der stärker behindernden Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit einzuordnen sei. Für die Implantation eines Hirnschrittmachers könne kein GdB festgestellt werden. Die Bewertung des essentiellen Tremors mit einem Einzel-GdB von 30 sei von dem Beklagten zu hoch vorgenommen worden, da er nicht mehr ständig, sondern nur noch zeitweise auftrete. Das beatmungspflichtige Schlafapnoesyndrom sei entsprechend den Bewertungsvorgaben zutreffend mit einem Einzel-GdB von 20 bewertet worden. Die übrigen Leiden des Klägers seien in ihren Auswirkungen zu gering, als dass sie die Höhe des GdB beeinflussen könnten.
Mit der Berufung verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Er ist der Ansicht, dass seine multiplen Beeinträchtigungen stärkere Auswirkungen zeitigten, als dies seitens des Sozialgerichts angenommen worden sei. Nicht hinreichend geklärt seien insbesondere seine unkontrollierten Erregungszustände, die ihn nicht nur bei der von ihm erstrebten Arbeitsaufnahme, sondern auch im engeren sozialen Bericht behinderten.
Auf den Verschlimmerungsantrag des Klägers vom 4. Juni 2009 hat der Beklagte das Gutachten des Chirurgen R vom 23. November 2010 eingeholt. Nach Untersuchung des Klägers ist der Gutachter zu dem Schluss gekommen, dass der GdB unverändert 50 beträgt. Dieser Einschätzung folgend hat der Beklagte den Verschlimmerungsantrag mit Bescheid vom 13. Dezember 2010 abgelehnt, wobei er von folgenden Funktionsbeeinträchtigungen ausgegangen ist:
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a) seelisches Leiden (30), |
b) essentieller Tremor, DBS-Stimulator-Implantation beidseits (30), |
c) Schlafapnoesyndrom (20), |
d) Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, operierte Wirbelsäule, künstliche Bandscheibe (20), |
e) Bluthochdruck, Übergewicht, Fettstoffwechselstörung, Herzrhythmusstörungen (10), |
f) Schwerhörigkeit mit Ohrgeräuschen (10). |
Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung des Gutachtens des Nervenarztes Dr. A vom 23. August 2011, der bei dem Kläger auf seinem Fachgebiet neben dem essentiellen Tremor und der DBS-Stimulator-Implantation beidseits ein neurasthenisches Syndrom bei komplexer Entwicklungsstörung (Lese-Rechtschreib-/Rechenstörung) im Sinne einer leichteren psychovegetativen Störung festgestellt und mit einem Einzel-GdB von nur 20 bewertet hat. Der Gesa...