Entscheidungsstichwort (Thema)
Rückwirkende Feststellung des Grades der Behinderung nach dem Schwerbehindertenrecht
Orientierungssatz
1. Eine Entscheidung über den Grad der Behinderung nach dem Schwerbehindertenrecht kann nach § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SchwbAwV grundsätzlich frühestens von dem Tag der Antragstellung an getroffen werden. Eine rückwirkende Feststellung kommt nach S. 2 ausnahmsweise dann in Betracht, wenn ein besonderes Interesse festgestellt worden ist, dass der anerkannte GdB bereits zu einem früheren Zeitpunkt vorgelegen hat.
2. Die Rückwirkung eines solchen Antrags ist auf offenkundige Fälle beschränkt.
3. Sie kommt nur dann in Betracht, wenn der Antragsteller ein besonderes Interesse i. S. von § 6 Abs. 1 S. 2 SchwbAwV nachweisen kann. Steuerliche Vorteile stellen regelmäßige Folgen der Feststellung eines GdB dar und begründen daher kein besonderes Interesse an einer rückwirkenden Feststellung.
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Neuruppin vom 26. April 2006 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte erstattet der Klägerin die Kosten des Widerspruchsverfahrens zu einem Viertel. Im Übrigen finde keine Kostenerstattung statt.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Höhe des bei der Klägerin festzustellenden Grades der Behinderung (GdB) für den Zeitraum von 1997 bis zum 12. Februar 2007.
Auf den Antrag der am … geborenen Klägerin vom 28. Juni 2001 stellte der Beklagte zunächst mit Bescheid vom 18. Februar 2002 fest, dass bei der Klägerin der GdB 30 betrage und dass eine dauernde Einbuße der körperlichen Beweglichkeit vorliege. Hiergegen erhob die Klägerin Widerspruch, mit dem sie sich gegen die Höhe des festgesetzten GdB wandte. Daneben begehrte sie die rückwirkende Festsetzung für die Zeit vor dem Jahr 2001. Nach weiteren medizinischen Ermittlungen setzte der Beklagte mit Abhilfebescheid vom 12. Dezember 2002 für folgende (verwaltungsintern mit den aus den Klammerzusätzen ersichtlichen Einzel-GdB bewertete) Funktionsbeeinträchtigungen den Gesamt-GdB ab 28. Juni 2001 auf 40 herauf:
a) Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Nervenwurzelreizerscheinungen, Funktionsbehinderung der Hüftgelenke, Osteoporose (30),
b) Schwerhörigkeit mit Ohrgeräuschen (20).
Die rückwirkende Feststellung des GdB lehnte er mit Bescheid vom 14. März 2003 ab. Die Klägerin erhob auch hiergegen Widerspruch. Mit Widerspruchsbescheid vom 17. April 2003 wies der Beklagte die Widersprüche als unbegründet zurück. Notwendige Kosten des Vorverfahrens seien der Klägerin zu einem Viertel zu erstatten.
Mit ihrer Klage vor dem Sozialgericht Neuruppin hat die Kläger zum einen ihr Begehren weiter verfolgt und zum anderen begehrt, die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts im Vorverfahren für notwendig zu erklären und die Kostenentscheidung des Beklagten zu überprüfen. Im Erörterungstermin vom 9. Juni 2004 hat sie indes allein beantragt, den Beklagten zu verurteilen, rückwirkend einen GdB von 50 festzustellen.
Das Sozialgericht hat neben Befundberichten der die Klägerin behandelnden Ärzte das Gutachten des Orthopäden Dr. M vom 9. März 2006 eingeholt, der den GdB bei der Klägerin seit 1997 gleichbleibend mit 40 eingeschätzt hat.
Mit Urteil vom 26. April 2006 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es insbesondere ausgeführt, dass bei der Klägerin kein Gesamt-GdB von 50 vorliege:
Die Funktionsbehinderungen des Bewegungsapparates habe der Sachverständige Dr. M in seinem Gutachten umfassend erhoben. Bei der Klägerin bestehe ein chronisches Lumbal-Syndrom mit pseudoradikulärer Ausstrahlung sowie eine Osteochondrose und eine Bandscheibendegeneration L 4/S 1. Hierbei handele es sich um Wirbelsäulenschäden mit mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in einem Abschnitt, die nach Nr. 26.18 der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit (AHP) mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten seien. Die Bewertung der Hüftendoprothese rechts mit einem Einzel-GdB von 20 entspreche dem in Nr. 26.18 der AHP festgelegten Mindestsatz. Gründe für eine Erhöhung seien nach den Feststellungen des Gutachters und den Berichten der die Klägerin behandelnden Ärzte nicht ersichtlich. Die Koxarthrose links mit Bewegungseinschränkung sei im Gegensatz zum Beklagten, der hierfür nur einen Einzel-GdB von 20 angesetzt habe, nach Nr. 26.18 mit einem Einzel-GdB von 30 zu bewerten, da über die Bewegungseinschränkung der Beugefähigkeit hinaus auch eine Einschränkung der Dreh- und Spreizfähigkeit vorliege. Die von der Klägerin vorgetragene Versteifung des Endglieds des III. Fingers links habe der Sachverständige nicht feststellen können.
Die Schwerhörigkeit und der im Befundbericht des HNO-Arztes Dr. L vom 22. Dezember 2005 als Verdachtsdiagnose genannte Tinnitus seien mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten. Aus den Sprachaudiogrammen ergebe sich nach Nr. 26.5 der AHP für die - seit 1997 gleichbleibende - Hörminderung ein GdB von 15, der auch unter Berücksichtigung der Ohrgeräusche auf nicht mehr als 20 an...