Entscheidungsstichwort (Thema)

Überlanges Gerichtsverfahren. Entschädigungsklage. Bemessung der unangemessenen Verfahrensdauer. aktive Zeit. Erforderlichkeit eines aktiven Tätigwerdens des Gerichts. Maßgeblichkeit des Zeitpunkts der Ausführung einer richterlichen Verfügung. Eingang der Verzögerungsrüge. Kammerwechsel. aufschiebende Wirkung der Klage bei Erstattungsbescheiden. keine pauschale Annahme einer nur geringen Bedeutung für den Kläger. keine Verlängerung der zwölfmonatigen Vorbereitungs- und Bedenkzeit. Wiedergutmachung auf sonstige Weise nicht ausreichend. außergerichtliche Geltendmachung des Entschädigungsanspruchs durch einen Rechtsanwalt. Anspruch auf Rechtsverfolgungskosten

 

Leitsatz (amtlich)

Geht es im streitgegenständlichen Ausgangsverfahren - sei es im Zusammenhang mit einer Aufhebungs- oder Rücknahmeentscheidung, sei es im Rahmen einer endgültigen Leistungsfestsetzung - im Wesentlichen um Erstattungsansprüche, kann die Bedeutung des Verfahrens nicht pauschal als unterdurchschnittlich betrachtet werden. Neben dem Suspensiveffekt der Klage sind jedenfalls auch die Höhe der geforderten Erstattung sowie die Frage zu berücksichtigen, ob es Anhaltspunkte dafür gibt, dass die Klage im Wesentlichen erhoben wurde, um die Rückzahlung der Forderung hinauszuzögern.

Mit Blick auf die Forderungshöhe ist dabei bei Empfängern (ergänzender) Grundsicherungsleistungen zu berücksichtigen, dass sich der objektive Umfang für diese anders darstellt. Denn existenzsichernden Leistungen ist regelmäßig eine überdurchschnittliche Bedeutung für ihren Empfänger beizumessen (BSG vom 3.9.2014 - B 10 ÜG 2/14 R = SozR 4-1720 § 198 Nr 5 = juris RdNr 39), weil ggf Leistungen zur Deckung des Lebensunterhalts im Existenzminimumsbereich fehlen und durch Einsparmaßnahmen bzw die Aufnahme privater Darlehen kompensiert werden müssen (BSG vom 12.2.2015 - B 10 ÜG 11/13 R = BSGE 118, 102 = SozR 4-1720 § 198 Nr 9 = juris RdNr 29). Dementsprechend bereitet diesen ggf aber auch die Rückzahlung bereits geringerer Beträge größere Probleme.

In welchem Umfang dem Gericht eine Vorbereitungs- und Bedenkzeit zusteht, richtet sich nach dem Einzelfall. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Vorbereitungs- und Bedenkzeit regelmäßig über zwölf Monate hinaus zu verlängern ist, wenn es im Wesentlichen um Erstattungsstreitigkeiten geht.

Ob in den Fällen, in denen es im streitgegenständlichen Ausgangsverfahren maßgeblich um Erstattungsansprüche geht, eine Wiedergutmachung auf andere Weise gemäß § 198 Abs 4 GVG im Wege der Feststellung der Unangemessenheit der Verfahrensdauer ausreicht, hängt vom Einzelfall ab. Es ist insoweit zu berücksichtigen, von welcher Bedeutung das Verfahren für einen Kläger war und ob er zu dessen Verlängerung beigetragen hat.

Die Rechtsanwaltskosten, die für einen außerprozessualen Einigungsversuchs entstanden sind, sind auch dann zu übernehmen, wenn dieser Antrag erst im Zusammenhang mit einem Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe in Vorbereitung einer Entschädigungsklage gestellt wurde.

 

Orientierungssatz

1. Die Gebietskörperschaften sind gehalten, für eine Personalausstattung der Gerichte zu sorgen, die es nicht nötig macht, Verfahren, in denen es im Wesentlichen um Erstattungsforderungen geht, länger als zwölf Monate zurückzustellen.

2. Maßgeblich für die Bewertung der inaktiven Zeit ist nicht der Zeitpunkt, zu dem der Richter einen richterlichen Hinweis verfügt, sondern der Zeitpunkt, zu dem die Verfügung tatsächlich ausgeführt wird. Insoweit sind Erstellung und Ausführung der Verfügung auch nicht einzeln in Ansatz zu bringen.

3. Der bloße Eingang einer Verzögerungsrüge sowie der Übergang eines Verfahrens auf eine andere Kammer sind bei der Bemessung der unangemessenen Verfahrensdauer nicht als aktives Tätigwerden des Gerichts zu werten.

4. Teilweise Parallelentscheidung zu den Urteilen des LSG Berlin-Potsdam vom 26.5.2020 - L 37 SF 150/19 EK AL und L 37 SF 197/19 EK AS.

 

Tenor

Der Beklagte wird verurteilt, der Klägerin wegen überlanger Dauer des vor dem Sozialgericht P zuletzt unter dem Aktenzeichen S 49 AS 1276/15 geführten Verfahrens eine Entschädigung in Höhe von 1.701,71 € zzgl. Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz ab dem 03. Februar 2020 zu zahlen.

Die Kosten des Verfahrens hat der Beklagte zu tragen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt eine Entschädigung wegen überlanger Dauer des vor dem Sozialgericht P zuletzt unter dem Aktenzeichen S 49 AS 1276/15 geführten Verfahrens. Dem abgeschlossenen Ausgangsverfahren lag folgender Sachverhalt zugrunde:

Zeitraum

Geschehen

01. Juli 2015

Klage gegen einen Bescheid des Jobcenters, mit dem dieses für den Zeitraum von Februar bis Juli 2014 die Bewilligung von Grundsicherungsleistungen wegen des Bezugs von Einkommen teilweise aufgehoben und eine Erstattungsforderung in Höhe von 467,04 € geltend gemacht hat. Eingewandt wird im Wesentlichen, dass der Forderung ein im Verfahren S 30 AS 73/15 erklärtes Anerkenntnis en...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?