Entscheidungsstichwort (Thema)

Überlanges Gerichtsverfahren. Entschädigungsklage. Bemessung der unangemessenen Verfahrensdauer. inaktive Zeit. Maßgeblichkeit des Zeitpunkts der Ausführung einer richterlichen Verfügung. Verfahrensermessen des Ausgangsgerichts. keine Vollprüfung der Verfahrensführung des Entschädigungsgerichts. aufschiebende Wirkung der Klage bei Erstattungsbescheiden. keine pauschale Annahme einer nur geringen Bedeutung für den Kläger. keine Verlängerung der zwölfmonatigen Vorbereitungs- und Bedenkzeit. keine Verkürzung des Zeitraums wegen beabsichtigter Privatinsolvenz. Obliegenheit zum Hinweis auf verzögerungsrelevante Tatsachen in der Verzögerungsrüge. Wiedergutmachung auf sonstige Weise nicht ausreichend. vorprozessuale Geltendmachung des Entschädigungsanspruchs durch einen Rechtsanwalt. Anspruch auf Rechtsverfolgungskosten

 

Leitsatz (amtlich)

Geht es im streitgegenständlichen Ausgangsverfahren - sei es im Zusammenhang mit einer Aufhebungs- oder Rücknahmeentscheidung, sei es im Rahmen einer endgültigen Leistungsfestsetzung - im Wesentlichen um Erstattungsansprüche, kann die Bedeutung des Verfahrens nicht pauschal als unterdurchschnittlich betrachtet werden. Neben dem Suspensiveffekt der Klage sind jedenfalls auch die Höhe der geforderten Erstattung sowie die Frage zu berücksichtigen, ob es Anhaltspunkte dafür gibt, dass die Klage im Wesentlichen erhoben wurde, um die Rückzahlung der Forderung hinauszuzögern. Letzteres dürfte in der Regel als widerlegt anzusehen sein, wenn ein Kläger im Ausgangsverfahren zumindest einen nicht unerheblichen Teilerfolg erzielt und/oder selbst keine Verfahrensverzögerungen verursacht hat.

In welchem Umfang dem Gericht eine Vorbereitungs- und Bedenkzeit zusteht, richtet sich nach dem Einzelfall. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Vorbereitungs- und Bedenkzeit regelmäßig über zwölf Monate hinaus zu verlängern ist, wenn es im Wesentlichen um Erstattungsstreitigkeiten geht.

Ob in den Fällen, in denen es im streitgegenständlichen Ausgangsverfahren maßgeblich um Erstattungsansprüche geht, eine Wiedergutmachung auf andere Weise gemäß § 198 Abs 4 GVG im Wege der Feststellung der Unangemessenheit der Verfahrensdauer ausreicht, hängt vom Einzelfall ab. Es ist insoweit zu berücksichtigen, von welcher Bedeutung das Verfahren für einen Kläger war und ob er zu dessen Verlängerung beigetragen hat.

 

Orientierungssatz

1. Die Gebietskörperschaften sind gehalten, für eine Personalausstattung der Gerichte zu sorgen, die es nicht nötig macht, Verfahren, in denen es im Wesentlichen um Erstattungsforderungen geht, länger als zwölf Monate zurückzustellen.

2. Maßgeblich für die Bewertung der inaktiven Zeit ist nicht der Zeitpunkt, zu dem der Richter einen richterlichen Hinweis verfügt, sondern der Zeitpunkt, zu dem die Verfügung tatsächlich ausgeführt wird.

3. Bei der Beurteilung der Prozessleitung des Ausgangsgerichts hat das Entschädigungsgericht die materiell-rechtlichen Annahmen, die das Ausgangsgericht seiner Verfahrensleitung und -gestaltung zugrunde legt, nicht infrage zu stellen, soweit sie nicht geradezu willkürlich erscheinen (hier im Hinblick darauf, dass das Ausgangsgericht eine zunächst angeforderte Stellungnahme nachträglich nicht mehr für erforderlich hielt).

4. Es kann dahinstehen, ob eine möglicherweise anzumeldende Privatinsolvenz überhaupt dazu geeignet ist, die den Gerichten zustehende Vorbereitungs- und Bedenkzeit zu verkürzen, wenn der Kläger in der Verzögerungsrüge das Ausgangsgericht nicht gemäß § 198 Abs 3 S 3 und S 4 GVG auf diesen Aspekt hingewiesen hat.

5. Zum Nachteil, welcher nach § 198 Abs 1 S 1 GVG zu entschädigen ist, zählen auch die Kosten für die vorprozessuale Geltendmachung des Entschädigungsanspruchs durch einen Rechtsanwalt.

6. Teilweise Parallelentscheidung zu den Urteilen des LSG Berlin-Potsdam vom 26.5.2020 - L 37 SF 149/19 EK AS und L 37 SF 197/19 EK AS.

 

Tenor

Der Beklagte wird verurteilt, der Klägerin wegen überlanger Dauer des vor dem Sozialgericht P unter dem Aktenzeichen S 18 AL 90/15 geführten Verfahrens eine Entschädigung in Höhe von 1.701,71 € zzgl. Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz ab dem 28. August 2019 zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens haben der Beklagte zu 9/10, die Klägerin zu 1/10 zu tragen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt eine Entschädigung wegen überlanger Dauer des vor dem Sozialgericht P unter dem Aktenzeichen S 18 AL 90/15 geführten Verfahrens. Dem abgeschlossenen Ausgangsverfahren lag folgender Sachverhalt zugrunde:

Die Klägerin erhob am 07. April 2015 vertreten durch ihre jetzigen Prozessbevollmächtigten Klage vor dem Sozialgericht P gegen die Bundesagentur für Arbeit, nachdem letztere mit Bescheid vom 17. November 2014 in der Gestalt des Bescheides vom 09. März 2015 sowie des Widerspruchsbescheides vom 12. März 2015 die Bewilligung von Arbeitslosengeld für die Zeit vom 04. September 2013 bis zum 03. Mai 2014...

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