Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht. Zurückverweisung nach Berufung gegen Gerichtsbescheid. verfahrensfehlerhafter Verstoß gegen Aufklärungspflicht. Beschränkung auf Auswertung eingeholter Befundberichte behandelnder Ärzte statt Einholung eines Sachverständigengutachtens
Orientierungssatz
1. Ein Sachverhalt ist grundsätzlich nur dann als geklärt im Sinne des § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG anzusehen, wenn ein verständiger Prozessbeteiligter in Kenntnis des gesamten Prozessstoffes keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des vom Gericht zugrunde gelegten entscheidungserheblichen Sachverhalts haben wird.
2. Soweit das Gericht einen medizinischen Sachverhalt auf Grund eigener Sachkunde bewerten will, ist die Grundlage darzulegen, auf der diese Sachkunde beruht, damit die Beteiligten hierzu Stellung nehmen können.
3. Die Bewertung von Funktionseinschränkungen durch behandelnde Ärzte ermöglicht nur eine grobe Einschätzung bestehender Funktionseinschränkungen. Zur Aufklärung eines Sachverhalts in medizinischer Hinsicht bedarf es regelmäßig der Einholung eines Sachverständigengutachtens, wobei sowohl im Hinblick auf das jeweilige medizinische Fachgebiet als auch im Hinblick auf die sozialmedizinischen Erfordernisse auf eine hinreichende Qualifikation und Erfahrung von Sachverständigen zu achten ist.
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 17. April 2012 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung auch über die Kosten des Verfahrens an das Sozialgericht zurückverwiesen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die 1969 geborene Klägerin begehrt die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von 50.
Auf Antrag der Klägerin vom 5. Februar 2010 auf Feststellung des GdB stellte der Beklagte nach Beiziehung von medizinischen Befundunterlagen mit Bescheid vom 2. Juli 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Januar 2011 zugunsten der Klägerin einen GdB von 40 aufgrund folgender Funktionsbeeinträchtigungen fest:
|
Depression |
(Einzel-GdB 30) |
Bronchiektasen (erweitere Bronchien) |
(Einzel-GdB 20) |
Funktionsbehinderung der Wirbelsäule |
(Einzel-GdB 20) |
Die Klägerin hat am 11. Februar 2011 Klage vor dem Sozialgericht Berlin erhoben, mit der sie die Feststellung eines GdB von 50 begehrt hat.
Das Sozialgericht hat Befundberichte der die Klägerin behandelnden Ärzte eingeholt und die Klage mit Gerichtsbescheid vom 17. April 2012 abgewiesen. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB. Die psychische Erkrankung sei aufgrund der Feststellungen der behandelnden Psychiaterin, der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie M, mit einem Einzel-GdB von 30 ausreichend bewertet. Nach den Feststellungen des behandelnden Orthopäden des in seinem Befundbericht vom 30. August 2011 lägen Wirbelsäulenschäden mit mittelgradigen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt vor, so dass der Einzel-GdB mit 20 zu bewerten sei. Hinsichtlich des Lungenleidens bestünde nach dem Befundbericht der behandelnden Ärztin für Lungen- und Bronchialheilkunde Dr. L vom 3. September 2011 lediglich eine leichte Beschwerdesymptomatik, so dass nach versorgungsmedizinischen Grundsätzen der Einzel-GdB mit 20 zu bewerten sei. Die übrigen Erkrankungen seien wegen ihrer Geringfügigkeit (Gastritis, Fettstoffwechselstörung) nicht GdB-relevant bzw. nicht festgestellt (Refluxkrankheit, Migräne).
Gegen den ihr am 23. April 2012 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 14. Mai 2012 Berufung eingelegt, mit der sie ihr Begehren weiterverfolgt.
Sie ist der Ansicht, dass das Sozialgericht die diversen Erkrankungen bei der GdB-Bewertung nicht ausreichend berücksichtigt habe. Zu deren Beurteilung sei mit Blick auf bestehende Funktionsbeeinträchtigungen die Einholung eines Sachverständigengutachtens erforderlich.
Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 17. April 2012 aufzuheben und den Rechtsstreit an das Sozialgericht Berlin zurückzuverweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen,
hilfsweise,
den Rechtsstreit an das Sozialgericht Berlin zurückzuverweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen. Die Akten waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe
Die Berufung der Klägerin ist gemäß §§ 143, 144 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben und im Sinne einer Zurückverweisung auch begründet.
Die Zurückverweisung beruht auf § 105 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG in der seit dem 1. Januar 2012 geltenden Fassung des Art. 8 Nr. 8 a) des Vierten Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 22. Dezember 2011 (BGBl. I. S. 3057), die mangels Schaffung einer Übergangsregelung in Art. 23 des vorgenannten Änderungsgesetzes nach dem allgemeinen Grundsatz des intertemporalen Prozessrechts auch schon vor Ihrem Inkrafttr...