Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Beanstandungsverfahren nach § 94 Abs 1 SGB 5 (hier: Beanstandungsverfügung des BMG gegen den Beschluss des G-BA vom 17.6.2010 zur Verordnungseinschränkung von Gliniden zur Behandlung des Diabetes mellitus Typ 2). Berechnung der Beanstandungsfrist bei Unterbrechung. Hinauszögern der behördlichen Entscheidung bis zum Inkrafttreten einer Änderung der Ermächtigungsgrundlage. Verpflichtungsbescheid der Aufsichtsbehörde muss Ermessenserwägungen erkennen lassen. sozialgerichtliches Verfahren. Aufsichtsklage. Rechtsschutzbedürfnis
Leitsatz (amtlich)
1. Im Rahmen des Beanstandungsverfahrens nach § 94 Abs 1 SGB 5 sind Anforderungen des Bundesministeriums für Gesundheit und Antworten des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA), die offenkundig nicht einer sachlichen, auf einen zügigen Abschluss gerichteten Verfahrensweise, sondern sachfremden Zielen dienen, für die Fristberechnung bedeutungslos.
2. Die Anwendung allgemeiner Aufsichtsmaßnahmen nach § 91 Abs 8 SGB 5 iVm § 89 Abs 1 SGB 4 wird dann nicht durch die für Richtlinien des GBA geltenden Spezialregelungen in § 94 Abs 1 SGB 5 verdrängt, wenn eine vor Ablauf der Beanstandungsfrist von zwei Monaten nicht absehbare Zäsur tatsächlicher oder rechtlicher Art eintritt.
3. Es ist einer Behörde nicht gestattet, eine Entscheidung aus sachfremden Gründen bis zum In-Kraft-Treten einer für den Normadressaten ungünstigeren Rechtsänderung hinauszuschieben.
4. Eine im Zeitpunkt ihres Erlasses auf gesetzlicher Grundlage ergangene untergesetzliche Rechtsnorm wird grundsätzlich nicht durch den Fortfall der Ermächtigungsvorschrift in ihrer Gültigkeit berührt (Anschluss an BVerfG vom 3.12.1958 - 1 BvR 488/57 = BVerfGE 9, 3, BVerfG vom 25.7.1962 - 2 BvL 4/62 = BVerfGE 14, 245, BVerfG vom 10.5.1988 - 1 BvR 482/84 = BVerfGE 78, 179, ua).
5. Die Prüfung des Rechtsschutzbedürfnisses als Sachurteilsvoraussetzung ist in der Regel nicht der Ort, schwierige, bislang ungeklärte materiellrechtliche Fragen einer Antwort zuzuführen.
6. Das Rechtsschutzbedürfnis einer Behörde für die Klage gegen eine Entscheidung der Aufsichtsbehörde entfällt nicht allein dadurch, dass die Behörde vorsorglich alternative Maßnahmen vorbereitet.
Orientierungssatz
1. Soweit durch die Anforderung zusätzlicher Informationen und ergänzender Stellungnahmen die Frist von zwei Monaten nach § 94 Abs 1 S 3 Halbs 2 SGB 5 unterbrochen ist, beginnt diese nach dem Ende der Unterbrechung nicht von Neuem, sondern lediglich der Zeitraum der Unterbrechung wird nicht in die Frist einberechnet.
2. Für den Erlass eines Verpflichtungsbescheides ist der Aufsichtsbehörde durch § 89 Abs 1 S 2 SGB 4 sowohl ein Entschließungs- als auch ein Auswahlermessen eröffnet. Die aus Sicht der Behörde maßgeblichen Ermessenserwägungen müssen - entsprechend der allgemeinen Anordnung durch § 35 Abs 1 S 3 SGB 10 - der Begründung des Verpflichtungsbescheides zu entnehmen sein. Sind sie dies nicht oder lässt der Verwaltungsakt nicht erkennen, dass sich die Behörde des Bestehens eines Ermessensspielraums bewusst war, ist er allein deshalb rechtwidrig und aufzuheben.
Tenor
Der Bescheid der Beklagten vom 21. Februar 2011 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Der klagende Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) wendet sich gegen eine Beanstandungsverfügung des die beklagte Bundesrepublik Deutschland vertretenden Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) vom 21. Februar 2011, mit dem dieses den Beschluss des GBA vom 17. Juni 2010 zur Verordnungseinschränkung von Gliniden zur Behandlung des Diabetes mellitus Typ 2 beanstandete.
Die Auseinandersetzung zwischen den Beteiligten steht im (zeitlichen) Zusammenhang mit einer Änderung von § 92 Abs. 1 Sozialgesetzbuch / Fünftes Buch (SGB V) durch das mit Wirkung zum 1. Januar 2011 in Kraft getretene Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes in der gesetzlichen Krankenversicherung (Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz - AMNOG - vom 22. Dezember 2010, BGBl. I, 2262). Diese Vorschrift lautete in der bis zum 31. Dezember 2010 gültigen Fassung:
“Der Gemeinsame Bundesausschuss beschließt die zur Sicherung der ärztlichen Versorgung erforderlichen Richtlinien über die Gewährung für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten; dabei ist den besonderen Erfordernissen der Versorgung behinderter oder von Behinderung bedrohter Menschen und psychisch Kranker Rechnung zu tragen, vor allem bei den Leistungen zur Belastungserprobung und Arbeitstherapie; er kann dabei die Erbringung und Verordnung von Leistungen einschließlich Arzneimitteln oder Maßnahmen einschränken oder ausschließen, wenn nach allgemein anerkanntem Stand der medizinischen Erkenntnisse der diagnostische oder therapeutische Nutzen, die medizinische Notwendigkeit oder die Wirtschaftlichkeit nicht nachgewiesen sind sowie wenn insbesondere ein Arzneimittel unzweckmäßig oder eine andere, wirtschaftlichere Behandlungsmöglichkeit mit vergleichbarem dia...