Entscheidungsstichwort (Thema)

Soziales Entschädigungsrecht. Beschädigtenversorgung. Schädigungsfolge. Impfschaden. Impfkomplikation. (Impf-)Poliomyelitis. Schluckimpfung. Lebendimpfstoff Cox-Vakzine trivalent. Kausalität. neuester medizinischer Erkenntnisstand. spinale/neurale Muskelatrophie

 

Orientierungssatz

Feststellung einer Muskelatrophie als Folge einer Impfung und die Gewährung einer Beschädigtenversorgung.

 

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 30. Juni 2006 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt im Überprüfungsverfahren nach § 44 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) die Anerkennung einer Muskelatrophie als Impfschaden und die Gewährung einer Beschädigtenversorgung.

Der 1948 geborene Kläger ist Studienrat und wurde zum 1. Juli 1983 wegen Dienstunfähigkeit in den Ruhestand versetzt. Bis zu seiner Volljährigkeit stand er unter der Amtsvormundschaft des Bezirksamtes S Ausweislich der Bescheinigung des Bezirksamtes S erhielt der Kläger am 13. Mai 1960 den Lebendimpfstoff Cox-Vakzine trivalent als Vorbeugungsmittel gegen Kinderlähmung. Die Impfung fand in Berlin (West) im Rahmen einer von der Senatsverwaltung für das Gesundheitswesen veranlassten Impfaktion in der Zeit vom 11. bis zum 20. Mai 1960 statt. Insgesamt wurden etwa 250.000 Personen im Alter zwischen drei Monaten und 20 Jahren und 25.000 bis 30.000 Personen im Alter von über 20 Jahren geimpft. Der verwendete Schluckimpfstoff der Firma L. war von den USA kostenlos zur Verfügung gestellt worden. Der Impfstoff war bis dahin in Deutschland nicht erprobt. Nach der Impfaktion kam es in mehr als 40 Fällen zu Erkrankungen, die in der Folgezeit Gegenstand der öffentlichen Berichterstattung und der wissenschaftlichen Diskussion waren. Aufgrund der Vorfälle wurde der Impfstoff in Deutschland nicht mehr verwendet. Ausweislich der Impfbescheinigung der Schulgesundheitsfürsorgestelle B nahm der Kläger am 3. Mai 1962 an der Schluckimpfung gegen den Typ I der übertragbaren Kinderlähmung teil. Dabei wurde ein in der ehemaligen DDR bereits zuvor verwendeter und in der Bundesrepublik Deutschland seit 1962 gebräuchlicher Lebendimpfstoff nach Sabin verwendet.

In der Zeit vom 7. Januar 1964 bis 5. Februar 1964 befand sich der Kläger zur stationären Behandlung in der Psychiatrischen und Neurologischen Klinik der F In dem ärztlichen Entlassungsbericht vom 10. Februar 1964 ist ausgeführt: Seit einem Jahr bemerke der Kläger eine Beeinträchtigung beim Laufen; der Gang sei unbeholfen. Die körperliche Untersuchung habe eine Atrophie der Unterschenkel- und Fußmuskulatur beiderseits mit einer Herabsetzung der groben Kraft der Fußmuskulatur ergeben. Die elektromyographische Ableitung habe eindeutig auf das Vorliegen einer neurogenen Parese sowohl in der Wadenmuskulatur als auch in der Kniestreckermuskulatur hingewiesen. Die CPK im Serum sei mit 3,3 E/ml leicht erhöht gewesen. Die Komplementsbindungsreaktionen auf Poliomyelitis seien negativ ausgefallen. Im psychischen Bereich sei der Kläger unauffällig gewesen. Die klinischen sowie die erhobenen Laborbefunde sprächen eindeutig für das Vorliegen einer spinalen Muskelatrophie (SMA). Ob die Symptomatologie auf einen chronischen Entzündungsprozess bzw. stattgehabten Entzündungsprozess oder auf ein degeneratives Leiden im Sinne einer progressiven SMA zurückzuführen sei, habe nicht geklärt werden können. In einem ärztlichen Schreiben der genannten Klinik an den Amtsvormund des Klägers vom 16. März 1965 ist ausgeführt: Auch nach erneuter Durchführung des Neutralisationstests und Kontrolle der Komplementsbindungsreaktionen sei eine floride oder durchgemachte Poliomyelitis nicht nachzuweisen. Aufgrund aller vorliegenden Befunde und unter Berücksichtigung der übersandten Impfbescheinigungen sei mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit festzustellen, dass bei dem Kläger keine Poliomyelitis bestehe und auch kein Impfschaden nach der 1962 durchgeführten oralen Poliomyelitisschluckimpfung gegen den Typ I nachzuweisen sei. Bezüglich der festgestellten Titer-Erhöhung des Typs II zeigten die neueren Untersuchungen aus dem serologischen Labor der Berliner Medizinaluntersuchungsämter und des Robert Koch-Instituts, dass solche Titer auch ohne eine Infektion möglich seien. Theoretisch sei denkbar, dass unabhängig von der Schluckimpfung und von dem bestehenden neurologischen Leiden eine latente Infektion Ende 1963 bzw. Anfang 1964 erfolgt sei, da in dieser Zeit vereinzelt der Typ II in Berlin zu beobachten gewesen sei. In einem ärztlichen Bericht der neurologisch-psychiatrischen Abteilung des R vom 23. Mai 1967 ist ausgeführt, bei dem Leiden des Klägers handele es sich mit Sicherheit um eine neurale Muskelatrophie (NMA) vom Typ Charcot-Marie-Tooth.

Mit dem Bescheid vom 15. Februar 1967 erkannte der Beklagte den Kläger als Schwerbeschädigten...

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