Entscheidungsstichwort (Thema)

Soziales Entschädigungsrecht. Impfschadensrecht. Polio-Impfung der schwangeren Mutter. Entschädigungsanspruch für das später geborene Kind. Cerebralparese als möglicher Impfschaden. ursächlicher Zusammenhang. erforderlicher Vollbeweis für die Primärschädigung. Kannversorgung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Bei einer Poliomyelitis-Impfung der Mutter während der Schwangerschaft Ende 1968/Anfang 1969 ist zur Beurteilung eines Impfschadens im Grundsatz auf die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) zurückzugreifen. Allerdings haben die in den AHP genannten Impfkomplikationen stets den "unmittelbar" Geimpften im Blick. Der Fall einer Impfung der Mutter und eines dadurch möglicherweise verursachten Impfschadens des ungeborenen Kindes ist nicht davon erfasst.

2. Für einen Anspruch auf eine "Kann-Versorgung" müssen nach einer nachvollziehbaren wissenschaftlichen Lehrmeinung Erkenntnisse vorliegen, die für einen generellen, in der Regel durch statistische Erhebungen untermauerten sprechen. Es darf nicht nur eine theoretische Möglichkeit des Zusammenhangs bestehen, sondern vielmehr eine "gute Möglichkeit", die sich in der wissenschaftlichen Medizin nur noch nicht so zur allgemeinen Lehrmeinung verdichtet hat, dass von gesicherten Erkenntnissen gesprochen werden kann. Es muss also wenigstens eine wissenschaftliche Lehrmeinung geben, die die Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhangs nachvollziehbar vertritt.

 

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 4. Juli 2017 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander auch nicht für das Berufungsverfahren zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Gründe

I.

Der Kläger begehrt die Anerkennung von Schädigungsfolgen und Versorgung wegen Gesundheitsstörungen, die seines Erachtens auf eine Polio-Impfung seiner Mutter während der Schwangerschaft zurückzuführen sind.

Der Kläger wurde 1969 geboren und zwar zwei Monate vor dem errechneten Geburtstermin nach vorzeitiger Wehentätigkeit und gesundheitlichen Problemen seiner Mutter. Seine 1947 geborene Mutter war bereits 1962 und 1963 mit oralen Polioimpfstoffen (OPV) der Typen I und III geimpft worden. Am 18. November 1968 erhielt sie eine weitere Impfung mit dem OPV Typ I und erstmals mit Typ II und am 6. Januar 1969 eine weitere Impfung mit dem OPV Typ III.

Auf einen im Februar 1975 nach dem Schwerbehindertengesetz gestellten Antrag holte der Beklagte ein ärztliches Gutachten vom 29. September 1975 ein, ausweislich dessen bei dem Kläger eine angeborene Cerebralparese festgestellt worden war. Der Kläger könne nicht laufen und die Beine kaum bewegen, die linke Hand sei gelähmt. Der untersuchende Versorgungsarzt bezeichnete das Leiden des Klägers als vermutlich durch angeborene Cerebralparese bedingte Querschnittslähmung der unteren Extremitäten, schlaffe Lähmung der linken Hand und Brustkorbdeformierung mit erheblicher Wirbelsäulenverkrümmung und bewertete dieses mit dem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100 v. H. bei Vorliegen mehrerer Merkzeichen. Mit Bescheid vom 16. Oktober 1975 folgte der Beklagte dem Gutachten und stellte den Grad der MdE mit 100 v. H. fest. Er stellte außerdem das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen „G“ (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr), „B“ (Notwendigkeit ständiger Begleitung), „aG“ (außergewöhnliche Gehbehinderung), „H“ (Hilflosigkeit) und „RF“ (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht) fest (vgl. auch Bescheid vom 24. Juli 1980) fest.

Am 20. Januar 2012 stellte der Kläger bei dem Versorgungsamt Berlin einen Antrag nach dem Infektionsschutzgesetz (IfSG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Er legte seinem Antrag eine beglaubigte Kopie des Impfbuches seiner Mutter und diverse medizinische Unterlagen bei. In einem vorläufigen Abschlussbericht des Neurologischen Rehabilitationszentrums Q in Bad W über eine Behandlung Ende 2011 ist als Diagnose eine schlaffe beinbetonte Tetraparese, klinisch am ehesten im Rahmen einer paralytischen Poliomyelitis nicht mehr zu klärender Genese mitgeteilt worden. Die neurologische Abteilung der S-Klinik bezeichnete die Diagnose in einem Arztbrief von August 2011 als Verdacht auf Folgezustand einer intrauterinen Polio. Das Versorgungsamt Berlin leitete den Antrag zuständigkeitshalber an den Beklagten weiter.

Der Beklagte ermittelte medizinisch. Das Krankenhaus, in dem der Kläger geboren wurde, teilte mit, die im Zusammenhang mit der Geburt stehenden Unterlagen seien nach Ablauf der gesetzlichen Aufbewahrungsfrist von 30 Jahren vernichtet worden. In einem beigezogenen abschließenden Entlassungsbericht des Neurologischen Rehabilitationszentrums Q in Bad W über die schon erwähnte Behandlung Ende 2011 wurde als Diagnose der Verdacht auf ein Postpoliosyndrom (PPS) (wahrscheinlicher Impfschaden) mitgeteilt.

In einer versorgungs...

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