Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht: Voraussetzung der Zuerkennung des Merkzeichens “G„
Orientierungssatz
1. Fehlt es für die Fähigkeit, eine angemessene Wegstrecke von mindestens 2 km zu Fuß zurück zu legen, nicht an den körperlichen Voraussetzungen, sondern lediglich an einem Trainingsmangel, so kommt die Zuerkennung eines Merkzeichens „G” für erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr zugunsten eines als schwerbehindert anerkannten Betroffenen nicht in Betracht.
2. Die Voraussetzungen zur Zuerkennung des Merkzeichens „G” bei einem schwerbehinderten Menschen, die als Kriterien auch in den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht aufgeführt sind, sind als Gewohnheitsrecht anerkannt und deshalb anwendbar.
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 19. Juli 2012 wird zurückgewiesen.
Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der 1967 geborene Kläger begehrt die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen “G„. Mit bestandskräftig gewordenem Bescheid vom 18. Januar 2007 hatte der Beklagte beim Kläger einen Grad der Behinderung (GdB) von 60 festgestellt, dem folgende Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde lagen:
- Suchtkrankheit, chronische Hepatitis, psychische Störungen (Neurosen) mit Einzel-GdB 60,
- degeneratives Wirbelsäulenleiden bei Adipositas per magna, Gelenkbeschwerden, Einzel-GdB 20.
Mit Verschlimmerungsantrag vom 31. Juli 2008 machte der Kläger das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen “G„ aufgrund seiner Adipositas per magna geltend. Der Beklagte holte daraufhin eine ärztliche Stellungnahme ein, lehnte jedoch die Zuerkennung des Merkzeichens “G„ mit Bescheid vom 5. November 2008 ab, in welchem er die Auflistung der Funktionsbeeinträchtigungen um die weitere Funktionsbeeinträchtigung Depression ergänzte, der er verwaltungsintern einen Einzel-GdB von 10 zuordnete.
Auf den Widerspruch des Klägers holte der Beklagte ein ärztliches Gutachten vom 24. August 2009 ein, in dem der Facharzt für Allgemeinmedizin H ausführte, gesundheitliche Voraussetzungen zur Anerkennung des Merkzeichens “G„ seien nicht erkennbar. Zwar gebe der Antragsteller an, dass er nur in der Lage sei, etwa 200 bis 300 m in der Ebene zu gehen, diese Angabe sei aber nach seinem ärztlichen Urteil nicht zu verifizieren. Es bestünden keinerlei Einschränkungen der Beweglichkeit und Funktion der Beine, des Herzens oder der Lunge bzw. der Lendenwirbelsäule, die eine derartige Entscheidung rechtfertigen könnten. Unbestritten seien Erschwernisse durch das “gigantische Übergewicht„, aber dieses sei nicht relevant nach den AHP. Im Widerspruch zur angegebenen Wegstrecke stehe auch die Angabe, dass der Antragsteller in der Lage sei, zwei Treppen ohne Halt zu steigen. Mit Widerspruchsbescheid vom 29. September 2009 wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück.
Mit der am 28. Oktober 2009 beim Sozialgericht Berlin erhobenen Klage hat der Kläger sein Begehren weiter verfolgt. Nach Beiziehung ärztlicher Befundberichte hat das Sozialgericht Beweis erhoben durch Einholung eines ärztlichen Sachverständigengutachtens des Arztes für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin Dr. G vom 23. November 2011. Insgesamt ist der Sachverständige zu der Einschätzung gelangt, es lägen keine relevanten erkennbaren Einschränkungen des Gehvermögens, auch nicht durch innere Leiden, Anfallsleiden oder Störungen der Orientierungsfähigkeit vor. Funktionseinschränkungen seien im Lendenwirbelsäulenbereich als maximal mittelgradig mit einem GdB von 20 anzusetzen, sowie im Kniegelenk einseitig mit einem GdB bis maximal 10 sowie im unteren Sprunggelenk ebenfalls mit maximal 10. Nach Ansicht des Sachverständigen liege der Grund für das eingeschränkte Gehvermögen des Klägers mehr in einer psychogenen Komponente, wobei das Übergewicht ein belastender Faktor, allerdings nicht wesentlich für die eingeschränkte Gehfähigkeit sei. Wegen der Einzelheiten wird auf das Gutachten Bezug genommen.
Mit Urteil vom 19. Juli 2012 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen und ist hierbei im Wesentlichen der Einschätzung des Sachverständigen Dr. G gefolgt. Das Urteil ist dem Prozessbevollmächtigten des Klägers am 30. Juli 2012 zugestellt worden.
Mit der am 29. August 2012 erhobenen Berufung verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 19. Juli 2012 aufzuheben und den Beklagten unter Änderung seines Bescheides vom 4. November 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. September 2009 zu verpflichten, bei ihm das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleiches “G„ ab 31. Juli 2008 festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens des Facharztes für Allgemeinmedizin und p...