Entscheidungsstichwort (Thema)

Schwerbehindertenrecht. Merkzeichen "RF". Beurteilung der Zumutbarkeit der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen. Bindung ans Haus. gelegentliche Teilnahme. rehabilitationstechnische Möglichkeiten. Menschenwürde

 

Leitsatz (amtlich)

1. Kann der Behinderte nur in einem Rollstuhl fixiert an einer öffentlichen Veranstaltung teilnehmen, genügt es nicht, wenn die Versorgungsverwaltung zur Bejahung der Zumutbarkeit auf rehabilitationstechnische Möglichkeiten verweist.

2. Die Beurteilung der Zumutbarkeit der Teilnahme richtet sich in diesem Grenzbereich noch möglicher Lebensgestaltung des Behinderten zwangsläufig auch nach der subjektiven Einschätzung des Betroffenen.

3. Nimmt der Schwerstbehinderte trotz seiner Fixierung im Rollstuhl gelegentlich an öffentlichen Veranstaltungen teil, rechtfertigt dies die Versagung des Merkzeichens "RF" nicht.

4. Der Verweis auf ein konkret nicht greifbares Hilfsmittel zum Besuch einer öffentlichen Veranstaltung scheidet aus.

 

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 07. Oktober 2008 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte trägt die erstattungsfähigen Kosten des Klägers in beiden Rechtszügen.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Streitig ist die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht (Merkzeichen “RF„).

Bei dem 1973 geborenen Kläger hatte der Beklagte bereits mit Bescheid vom 6. November 1991 einen Grad der Behinderung (GdB) von 80 wegen folgender Behinderungen (deren verwaltungsinterne Einzel-GdB - Bewertung sich aus dem Klammerzusatz ergibt):

Sehminderung (Einzel-GdB 50) und

Muskelsystemerkrankung (Einzel-GdB 50)

sowie das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens “G„ anerkannt. Ein Änderungsantrag aus dem Jahr 2001, mit dem der Kläger insbesondere die Zuerkennung des Merkzeichens “aG„ geltend machte, blieb erfolglos (Bescheid vom 24. Januar 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. November 2002).

Mit seinem Neufeststellungsantrag vom 28. Februar 2005 machte der Kläger die Zuerkennung der Merkzeichen “aG„ und “RF„ geltend, da er in seiner Mobilität aufgrund der vorliegenden Muskeldystrophie stark eingeschränkt sei. Der Beklagte zog ein Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung vom 23. September 2004 sowie ein neurologisches Gutachten der Fachärztin für Neurologie Dr. A vom 7. Oktober 2004, welches im Auftrag der zuständigen Rentenversicherung erstellt worden war, bei und holte einen Befundbericht des Facharztes für Allgemeinmedizin Dipl.-Mediziner E vom 18. Mai 2005 ein. Nach versorgungsärztlicher Auswertung dieser Unterlagen lehnte der Beklagte eine Änderung des Bescheides vom 6. November 1991 mit Bescheid vom 11. Juli 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Januar 2006 ab und führte zur Begründung unter anderem aus, der Kläger erfülle weder die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens “aG„ noch des Merkzeichens “RF„.

Im anschließenden Klageverfahren hat das Sozialgericht Cottbus Befundberichte des Facharztes für Innere Medizin Dr. J vom 12. Mai 2007, des Facharztes für Orthopädie Dr. T vom 4. Mai 2007, des Facharztes für Innere Medizin/Psychotherapie Dr. H vom 11. Juni 2007 und des Facharztes für Allgemeinmedizin Dipl.-Mediziner E vom 12. Juli 2007 eingeholt.

Der als Sachverständiger bestellte Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. D hat in seinem Gutachten vom 29. Januar 2008 unter anderem ausgeführt, der Kläger leide unter einer Muskelfunktionsstörung an Schultern, Armen, Becken, Beinen und Körperstamm im Sinne einer Muskeldystrophie, die einen Einzel-GdB von 100 bedinge. Es liege eine außergewöhnliche Gehbehinderung vor, die Doppeloberschenkelamputierten mit der dauernden Unfähigkeit zum Tragen einer Prothese vergleichbar sei. Der Kläger könne sich ohne fremde Hilfe und ohne große Kraftanstrengung nicht fortbewegen. Er sei dauerhaft außer Stande, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen, er könne keinen Rollstuhl benutzen, auch aufgrund der gestörten Körperstatik nicht längere Zeit frei sitzen.

Durch Urteil vom 7. Oktober 2008 hat das Sozialgericht, nachdem es in der mündlichen Verhandlung den Sachverständigen ergänzend befragt hat, der Klage stattgegeben und den Beklagten verurteilt, einen GdB von 100 sowie das Vorliegen der Voraussetzungen der Merkzeichen “aG„ und “RF„ ab 28. Februar 2005 festzustellen. Zur Begründung hat es sich im Wesentlichen auf das Gutachten des Sachverständigen Dr. D gestützt.

Gegen das ihm am 3. November 2008 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 25. November 2008 Berufung hinsichtlich der Zuerkennung des Merkzeichens “RF„ eingelegt. Zur Begründung führt er u. a. aus, seiner Auffassung nach lägen die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen “RF„ nicht vor. Der Kläger sei nicht generell von der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen. Wenn auch unter Schwierigkeiten, sei es dem Kläger möglic...

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