Entscheidungsstichwort (Thema)
Kassenärztliche Vereinigung. Honorarverteilungsvertrag ab 1.4.2005. Rechtmäßigkeit. Individualbudgetierungsregelung. Fortführung iS der Öffnungsklausel in Teil III Ziff 2.2 des Beschlusses des Bewertungsausschusses vom 29.12.2004. Punktwertstabilisierung für Jungpraxen
Leitsatz (amtlich)
Sofern ein Vertrag über den Honorarverteilungsmaßstab ab dem 1.4.2005 noch die Bildung eines Individualbudgets vorsieht, verstößt dies gegen § 85 Abs 4 SGB 5 und die Vorgaben des Bewertungsausschusses; Individualbudgets stellen kein Steuerungsinstrument dar, das den gesetzlich vorgegebenen Regelleistungsvolumen in seinen Auswirkungen vergleichbar ist.
Orientierungssatz
Für Praxen in der Aufbauphase kann ein Wachstum über den Fachgruppendurchschnitt hinaus ausgeschlossen werden (vgl BSG vom 10.12.2003 - B 6 KA 54/02 R = BSGE 92, 10 = SozR 4-2500 § 85 Nr 5 und B 6 KA 76/03 R = SozR 4-2500 § 85 Nr 6).
Tenor
Das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 13. August 2008 sowie der Bescheid der Beklagten vom 16. Juni 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Juni 2005 werden geändert.
Es wird festgestellt, dass die Beklagte nicht berechtigt war, das Honorar der Klägerin für die Quartale II/2005 bis II/2008 durch ein Individualbudget zu begrenzen.
Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens zu 2/3, die Klägerin zu 1/3.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Festsetzung eines höheren Individualbudgets für die Quartale III/03 bis I/05 sowie die Feststellung, dass die Beklagte nicht berechtigt war, ihr Honorar für die Quartale II/05 bis II/08 durch ein Individualbudget zu begrenzen.
Die Klägerin nimmt seit dem 1. April 2003 als Ärztin für Allgemeinmedizin im Verwaltungsbezirk R an der vertragsärztlichen Versorgung teil. Sie war zunächst in einer Praxisgemeinschaft mit mehreren Ärzten tätig. Seit 1. Juli 2008 besteht eine Berufsausübungsgemeinschaft mit unterschiedlichen Ärzten.
Mit dem Quartal II/03 als Bemessungszeitraum ermittelte die Beklagte entsprechend den Regelungen im seinerzeit geltenden Honorarverteilungsmaßstab (HVM) für die Klägerin folgendes Individualbudget:
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Primärkassen |
Ersatzkassen |
Quartalsumsatz |
13.434,98 Euro |
10.575,78 Euro |
IB-Punkte je Quartal |
262.765 |
206.844 |
IB-Punkte je Quartal, Fachgruppengrenzwert |
324.004 |
243.005 |
Mit Schreiben vom 27. November 2003 beantragte die Klägerin eine Neufestsetzung ihres Individualbudgets auf der Grundlage von § 9 Abs. 9 HVM. Im ersten Quartal ihrer Tätigkeit habe sie den Fachgruppendurchschnitt schon knapp erreicht, im zweiten Quartal habe sie schon erheblich darüber gelegen. Bei Eröffnung ihrer Praxis sei der Bezirk R unterversorgt gewesen, so dass ein erheblicher Patientenzustrom zu verzeichnen gewesen sei. Gleichzeitig hätten zwei Ärzte - A P (Pulmologe) und P S (Allgemeinmedizinerin) - ihre Praxen ohne Nachfolgeregelung geschlossen. Sie habe insbesondere viele Patienten der Ärztin S weiter behandelt. Alle übrigen Partner der Praxisgemeinschaft - sämtlich Hausärzte - verfügten über ein weit überdurchschnittliches Individualbudget. Angesichts des von ihr geleisteten gleichen Versorgungsbeitrages dürfe sie nicht schlechter stehen als ihre Kollegen. Bei ihrer Investitionsentscheidung habe sie sich zudem an den Durchschnittswerten der Praxisgemeinschaft orientiert.
Mit Bescheid vom 16. Juni 2004 lehnte die Beklagte den Antrag auf Neufestsetzung des Individualbudgets ab. Für das Individualbudget der Klägerin gälten die im HVM vorgesehenen Regelungen - § 9 Abs. 4c - für eine Jungpraxis. Diese dürfe 20 Quartale lang ohne Begrenzung der Steigerungsrate bis zum Fachgruppendurchschnitt wachsen. Das festgesetzte Individualbudget begrenze das Vergütungsvolumen damit nicht; der Antrag auf Erhöhung des Individualbudgets seitens einer unter dem Fachgruppendurchschnitt liegenden Praxis sei unnötig.
Zur Begründung ihres hiergegen erhobenen Widerspruchs führte die Klägerin an: Sie habe Anspruch auf Neufestsetzung des Individualbudgets gemäß § 9 Abs. 9 HVM. Den Fachgruppendurchschnitt habe sie aufgrund der besonderen Situation im Planungsbereich - hohe Bevölkerungsdichte, Unterversorgung, Praxisschließungen - schon im zweiten Quartal ihrer Tätigkeit überschritten. Die Schlechterstellung gegenüber ihren Praxiskollegen sei nicht gerechtfertigt, sie müsse als Härtefall angesehen werden.
Den Widerspruch wies die Beklagte mit Bescheid vom 30. Juni 2005 zurück. Die Klägerin sei als Jungpraxis zu behandeln und könne keine Festsetzung ihres Individualbudgets jenseits der Fachgruppengrenzwerte beanspruchen. Die gegebene Steigerung der Fallzahlen sei insoweit kein anerkennungsfähiger Grund:
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Quartal |
Fallzahlen |
Angefordertes Punktzahlvolumen |
II-2003 |
798 |
743.401 |
III-2003 |
1.266 |
1.232.156 |
IV-2003 |
1.048 |
1.062.384 |
I-2004 |
749 |
741.753 |
II-2004 |
830 |
887.245 |
III-2004 |
1.052 |
1.028.607 |
IV-2004 |
1.231 |
1.273.547 |
Die Grenze für das zulässige Wachstum einer Praxis werde durch die Fachgruppengrenzwerte gezogen. Dem...