Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehinderung. außergewöhnliche Gehbehinderung. zumutbare Wegstrecke. aktuelle Parkplatzsituation
Orientierungssatz
1. Ein Schwerbehinderter, der noch imstande ist, Wegstrecken von bis zu 300 m im Berliner Ortsverkehr ohne fremde Hilfe und mit zumutbarer Anstrengung zurückzulegen, erfüllt nicht die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" (vgl BSG vom 3.2.1988 - 9/9a RVs 19/86 = SozR 3870 § 3 Nr 28).
2. Unter Berücksichtigung der gegenwärtigen allgemeinen Parkplatzsituation im Geltungsbereich des StVG kann es keinem vernünftigen Zweifel unterliegen, daß bei einem Schwerbehinderten, dessen zusammenhängende Wegstrecke auf 100 m limitiert ist, die Erreichbarkeit der für ihn in Betracht kommenden Zielorte (ua Kaufhäuser, Supermärkte, Geschäfte, Behörden, Gerichte, Krankenhäuser, Ärzte, Theater, Kinos und andere Veranstaltungsorte) erheblich beeinträchtigt ist.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Feststellung des Merkzeichens "aG" (außergewöhnliche Gehbehinderung) nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG).
Durch Widerspruchsbescheid vom 30. April 1987 hatte der Beklagte bei der 1923 geborenen Klägerin
a) Migräne,
b) chronisch rezidivierende Bronchitis,
c) labiler Bluthochdruck, Übergewicht,
d) degenerative Wirbelsäulenveränderungen mit langanhaltenden Nervenwurzelreizerscheinungen und Funktionsbehinderungen, Arthritis an den Finger- und Fußgelenken,
e) Gonarthrose, mittelgradige Varicosis beiderseits
als Behinderungen mit einem dadurch bedingten Grad der Behinderung (GdB) von 60 anerkannt, jedoch die Zuerkennung der von der Klägerin beanspruchten Nachteilsausgleiche "G" (erhebliche Gehbehinderung) und "aG" abgelehnt. Dieser Entscheidung lag ein ärztliches Gutachten des Arztes für Orthopädie Dr. H vom 26. März 1987 zugrunde, der für die Behinderungen zu d) und e) Einzelbehinderungsgrade von 40 und 30 für angemessen hielt und ausführte, das Gangbild der Klägerin sei unauffällig, so daß ihr keine erhebliche Gehbehinderung zugebilligt werden könne.
Die Klägerin hatte gegen den Widerspruchsbescheid vom 30. April 1987 vor dem Sozialgericht Klage erhoben (S 48 Vs 603/87) und die Feststellung des Merkzeichens "G" beantragt. Nachdem der im sozialgerichtlichen Verfahren zum Sachverständigen bestellte Oberarzt der Orthopädischen Abteilung des Krankenhauses N. Dr. Sch in seinem Gutachten vom 14. Dezember 1988 die Auffassung vertreten hatte, der Klägerin stehe das Merkzeichen "G" zu, weil die sich auf ihr Gehvermögen auswirkenden Gesundheitsstörungen bereits einen GdB von 50 bedingten und die Klägerin nicht in der Lage sei, eine Wegstrecke von 2.000 m zurückzulegen, und hieran trotz der von dem Versorgungsarzt W geäußerten Bedenken festhielt, erkannte der Beklagte in der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht am 5. Juli 1990 das Vorliegen der Voraussetzungen einer erheblichen Gehbehinderung ab Anfang 1988 an. Durch Bescheid vom 16. August 1990 führte der Beklagte das Anerkenntnis aus.
Im September 1990 beantragte die Klägerin die Erhöhung des GdB auf 80 und die Bewilligung des Merkzeichens "aG". Zur Begründung bezog sie sich auf eine ärztliche Bescheinigung des Chefarztes der Inneren Rheumatologischen Abteilung des I.-Krankenhauses Dr. S vom 16. Juli 1990, in der es u.a. heißt, bei der Klägerin bestehe außer den rezidivierenden Lumbalgien seit einem Unfall am 8. Januar 1988 ein heftiges Schmerzsyndrom der Brustwirbelsäule und ein claudicatioähnliches Syndrom bei vorhandenem engen Spinalkanal; die Gehstrecke betrage 50 m; die Klägerin sei noch in der Lage, Auto zu fahren, müsse jedoch das Fahrzeug so nahe am Ziel parken können, daß sie das Ziel mit wenigen Schritten erreichen könne. Dr. S. hatte der Klägerin am 8. Mai 1989 ein Delta-Gehrad mit großen Rädern verschrieben.
Auf Veranlassung des Beklagten erstattete der Arzt für Allgemeinmedizin Dr. Sch am 15. Oktober 1990 ein ärztliches Gutachten über die Klägerin. Er schlug eine Neuformulierung der unter d) zusammengefaßten Gesundheitsstörungen, die mit einem GdB von 50 (statt 40) zu bewerten seien, wie folgt vor:
"Degenerative Wirbelsäulenveränderung mit langanhaltenden Nervenwurzelreizerscheinungen und Funktionsbehinderungen; Arthritis an den Finger- und Fußgelenken; Osteophytenspangenbruch an der Vorderkante des 8. Brustwirbelkörpers, Syndrom des engen Spinalkanals".
Außerdem wurde "Weichteilrheumatismus" mit einem GdB von 20 als neue Behinderung festgestellt und die Anhebung des Gesamt-GdB auf 70 empfohlen. Dem entsprach der Beklagte in dem Bescheid vom 23. Januar 1991, in dem zusätzlich das Merkmal "B" (Notwendigkeit ständiger Begleitung bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel) anerkannt wurde. Hingegen folgte der Beklagte dem Vorschlag des von ihm beauftragten Gutachters, der Klägerin den Nachteilsausgleich "aG" zu gewähren, nicht. Dieser hatte in dem Gutachten vom 15. Oktober 1990 ausgeführt, obwohl die Klägerin allein in die Praxis gekommen sei und 1 1/2 Stockwerke zu bewältigen in der Lage gewesen sei, sei auf...