Entscheidungsstichwort (Thema)
Nachteilsausgleich aG. außergewöhnliche Gehbehinderung. zumutbare Wegstrecke. Behindertengrundrecht
Orientierungssatz
1. Aus der Einfügung des S 2 in Art 3 Abs 3 GG kann nicht hergeleitet werden, daß die Vorschriften, die die Gewährung von Nachteilsausgleichen, insbesondere das Merkzeichen "aG", regeln, extensiver ausgelegt bzw großzügiger gehandhabt werden müssen. Die Vorschrift bezweckt zwar die Stärkung der Stellung behinderter Menschen in Recht und Gesellschaft, und sie enthält ein Gleichheitsrecht zugunsten Behinderter sowie einen Auftrag an den Staat auf die gleichberechtigte Teilhabe Behinderter hinzuwirken, aus ihr lassen sich aber keine konkreten Rechte oder Ansprüche auf bestimmte Vergünstigungen oder auf eine extensive oder großzügige Handhabung der die Voraussetzungen solcher Vergünstigungen regelnden gesetzlichen Vorschriften herleiten.
2. Eine Schwerbehinderte, die mit zumutbarer Anstrengung eine Wegstrecke von mehr als 100 m ohne Pause zurücklegen kann, ist nicht außergewöhnlich gehbehindert iS der Verwaltungsvorschrift zu § 46 Abs 1 S 1 Nr 11 StVO.
Nachgehend
Tatbestand
Die Beteiligten streiten im Berufungsverfahren noch um die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" (außergewöhnliche Gehbehinderung).
Die 1958 geborene Klägerin, die bereits durch Bescheid vom 28. Juli 1964 wegen "Zustand nach doppelseitiger Hüftluxation mit Beinverkürzung" mit einem Grad der Behinderung -GdB- (damals noch: Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit) von 70 als Schwerbehinderte anerkannt war, stellte im Januar 1993 einen Neufeststellungsantrag, mit dem sie u.a. die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs "aG" begehrte. Sie legte ein ärztliches Attest der Ärztin für Orthopädie Dr. T. vom 19. Januar 1993 vor, in dem es heißt, bei der Klägerin liege eine schwere angeborene Hüftgelenkerkrankung links stärker als rechts, mit massiver schmerzhafter Bewegungseinschränkung und fast völliger Belastungsinsuffizienz vor; es bestehe eine außergewöhnliche Geh- und Stehbehinderung im alltäglichen Leben vor allem bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel; es werde um Höherstufung des GdB und Zuerkennung des Merkzeichens "aG" gebeten.
Auf Veranlassung des Beklagten erstattete der Arzt für Orthopädie Dr. V. am 10. März 1993 ein ärztliches Gutachten über die Klägerin. Er empfahl eine Änderung der Leidensformulierung unter Beibehaltung des bisherigen GdB von 70 sowie die Anerkennung des Merkzeichens "G" (erhebliche Gehbehinderung). Hierzu führte er aus, die Klägerin sei allein gekommen, ohne Gehhilfe; das Gangbild sei linksseitig deutlich hinkend unter Spitzfußstellung, jedoch relativ zügig und raumgreifend.
Durch Bescheid vom 22. Juni 1993 bezeichnete der Beklagte die Behinderung wie folgt:
operiertes angeborenes Hüftleiden beiderseits, verbleibende Hüftgelenkverrenkung mit Beinverkürzung links, statische Wirbelsäulenverbiegung.
Der GdB betrage 70; es lägen die gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "G" vor, nicht jedoch für die Merkzeichen "aG", "RF" und "1. Kl".
Mit dem gegen diesen Bescheid eingelegten Widerspruch zweifelte die Klägerin die Objektivität des Gutachters Dr. V. wegen dessen "unsachlicher Äußerungen" während der Untersuchung an. Sie wies auf ihre besondere Situation als alleinerziehende berufstätige Frau hin. Sie benötige das Merkzeichen "aG", weil bei ihrem Arbeitgeber Parkplatznot herrsche. Da sie ihren Sohn in den Kindergarten bringen müsse, könne sie morgens erst gegen 8.30 Uhr zur Arbeit erscheinen. Zu dieser Tageszeit seien nur noch die für Behinderte reservierten Parkplätze frei.
Nach Einholung einer gutachtlichen Stellungnahme des Arztes B. wies der Beklagte den Widerspruch der Klägerin durch Widerspruchsbescheid vom 6. Dezember 1993 zurück.
Mit der gegen diesen Bescheid erhobenen Klage hat die Klägerin geltend gemacht, sie gehöre zu dem Personenkreis, der sich wegen der Schwere des Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kfz bewegen könne. Sie leide unter außergewöhnlichen Gehstörungen, da sie nicht in der Lage sei, 300 m zu gehen. Bei einer Gehstrecke von mehr als 200 m träten große Schmerzen auf. Aufgrund ihrer Behinderungen und Funktionsstörungen sei sie dem Personenkreis gleichzustellen, der einseitig oberschenkelamputiert sei. Auch unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck des Schwerbehindertengesetzes, Nachteile von Behinderten in Beruf und Gesellschaft auszugleichen, sei ihr das Merkmal "aG" zuzuerkennen. In einer von der Klägerin vorgelegten psychologischen Stellungnahme des Diplom-Psychologen B. vom 31. März 1994 wird die "Gewährung einer Kfz-Parkerleichterung entschieden" befürwortet, "da durch diese Maßnahme. die chronische körperliche und psychische Überforderung bei der Alltagsbewältigung erheblich gemindert werden kann".
Aufgrund versorgungsärztlicher Stellungnahmen des Arztes für Neurologie und Psychiatrie L. und des Chirurgen Dr. L. erkannte der Bekla...