Entscheidungsstichwort (Thema)
Fremdrentenrecht. Leistungsgruppeneinstufung. Vorsitzender eines Dorfrates. Dorfsowjet
Leitsatz (amtlich)
1. Die Tätigkeit eines Dorfratsvorsitzenden in der Sowjetunion in den 20er und 30er Jahren ist eine Spezialtätigkeit iS der Leistungsgruppe 3 der Anl 1 Buchst B zu § 22 FRG.
2. Bei der Tätigkeit als Vorsitzender des Dorfrats handelt es sich um eine seltene Tätigkeit, für die es keinen allgemein gangbaren Ausbildungs- oder Zugangsweg gibt (vgl LSG Essen vom 24.1.1989 - L 13 An 122/87).
Nachgehend
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Einstufung in die Leistungsgruppen des Fremdrentengesetzes (FRG) streitig.
Die am 16. Juni 1907 in S.-R., Kreis B.-, Gebiet Omsk, Rußland (ehemalige UdSSR), geborene Klägerin ist als Vertriebene anerkannt und siedelte am 31. Juli 1987 in die Bundesrepublik Deutschland über. Sie wird vertreten durch T., der durch Bestallung vom 14. September 1987 vom Amtsgericht Bremen zum Pfleger bestellt und am 9. Februar 1993 durch das Amtsgericht Bremen zum Betreuer bestellt wurde. Sie ist die Witwe des am 3. Oktober 1903 ebenfalls in S.-R. geborenen A. T., den sie am 25. Februar 1925 heiratete. Nach Zeugenaussagen des im Jahre 1912 in S.-R. geborenen J. S. und des im Jahre 1903 in S.-R. geborenen E. B. vom 25. Oktober 1991 und 4. März 1992 sowie einer "wahrheitsgemäßen Erklärung" der Klägerin vom 27. Dezember 1991 war der verstorbene Ehemann von Ende 1924 bis Ende 1932 Vorsitzender des Dorfsowjets. Er wurde von den Bürgern der Gemeinde in geheimer Wahl gewählt und durch eine Regierungsstelle in der Kreisstadt entlohnt. Er war für alle Fragen und Probleme der Bevölkerung zuständig. Er ist am 21. September 1933 an Typhus verstorben, nachdem er (nach den Angaben der Klägerin) im Dezember 1932/Januar 1933 in einem Lager inhaftiert wurde.
Auf den am 21. Oktober 1991 gestellten Antrag bewilligte die Beklagte mit Bescheid vom 15. Juli 1992 Hinterbliebenenrente ab 31. Juli 1987 mit einem monatlichen Zahlbetrag von zunächst DM 637,70. Sie legte dabei Beitragszeiten des Verstorbenen von Dezember 1924 bis Dezember 1932 zugrunde, die sie für den Zeitraum bis Dezember 1928 in die Leistungsgruppe 5 und ab Januar 1929 in die Leistungsgruppe 4 der Anlage 1 B zu § 22 FRG einstufte. Mit Bescheid vom 7. Oktober 1992 nahm die Beklagte eine Umstellung der Rente nach den Vorschriften des Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetzes (FANG) mit gleichem Rentenzahlbetrag vor, unter dem 3. November 1992 erließ die Beklagte einen Bescheid als Folgebescheid für Bezugszeiten ab Januar 1992.
Am 10. Mai 1993 beantragte die Klägerin eine Überprüfung der Leistungsgruppenzuordnung nach § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Verwaltungsverfahren (SGB X). Sie gab an, daß ihr verstorbener Ehemann für die Verwaltung dreier Dörfer mit ca. 1.500 Einwohnern verantwortlich gewesen sei. Er habe Urkunden ausgestellt, Verträge beglaubigt, Grundstücksgrenzen überprüft und sei verantwortlich für die Planerfüllung und die Einbringung der Ernte gewesen. Zur Erfüllung dieser Aufgaben hätten ihm eine Sekretärin, ein Buchhalter und ein Archivar unterstanden.
Mit Bescheid vom 26. August 1993 lehnte die Beklagte eine Neufeststellung der Rente mit der Begründung ab, daß der Verstorbene bei Beginn seiner Tätigkeit als Bürgermeister über keine abgeschlossene Berufsausbildung oder gleichwertige Fachkenntnisse verfügt habe; von solchen Fachkenntnissen sei regelmäßig erst nach fünf Jahren stetiger Berufspraxis auszugehen.
Mit dem dagegen eingelegten Widerspruch machte die Klägerin geltend, daß es sich bei der Tätigkeit als Vorsitzender eines Dorfsowjets um eine Spezialtätigkeit im Sinne der Leistungsgruppe 3 gehandelt habe. Zumindest sei aber von Anfang an die Leistungsgruppe 4 anzunehmen, da in diese Leistungsgruppe auch Angestellte, die als Aufsichtspersonen einer kleinen Zahl von überwiegend ungelernten Arbeitern vorständen, einzustufen seien.
Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 5. November 1993 zurückgewiesen. Die Beklagte führte zur Begründung aus, daß eine "mehrjährige Berufstätigkeit" im Sinne der Leistungsgruppe 4 zumindest doppelt solange wie eine normale Ausbildung ausgeübt werden müsse, d.h. in der Regel über einen Zeitraum von fünf Jahren. Die für die Einstufung in die Leistungsgruppe 4 erforderliche mehrjährige Berufstätigkeit sei daher erst ab 31. Dezember 1929 vorhanden gewesen. Eine mehrjährige Berufserfahrung oder besondere Fachkenntnisse und Fähigkeiten im Sinne der Leistungsgruppe 3 seien für den nur bis 1932 andauernden Zeitraum nicht anzunehmen, da weder eine etwa zehnjährige Ausübung einer qualifizierten Berufstätigkeit noch eine besondere Berufsausbildung bzw. ein Fachschulbesuch vorgelegen hätten.
Die Klägerin hat am 1. Dezember 1993 Klage beim Sozialgericht (SG) Bremen erhoben, mit der sie die Einstufung der gesamten Beschäftigungszeit in die Leistungsgruppe 3 begehrt hat. Sie hat zur Begründung erneut ausge...