Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Unionsbürger. anderes Aufenthaltsrecht. abgeleitetes materielles Aufenthaltsrecht des sorgerechtsausübenden Elternteils eines minderjährigen Kindes. Inländergleichbehandlung. verfassungskonforme Auslegung
Leitsatz (amtlich)
1. Der hilfebedürftige Unionsbürger hat Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung, wenn er über ein materielles Aufenthaltsrecht verfügt. Hierzu zählt ein Aufenthaltsrecht aus § 11 Abs 1 S 11 FreizügG (juris: FreizügG/EU 2004) iVm § 28 Abs 1 S 1 Nr 3 AufenthG (juris: AufenthG 2004) und Art 18 Abs 1 AEUV.
2. Soweit Aufenthaltsrechte von Unionsbürgern nach § 11 Abs 1 S 11 FreizügG/EU iVm den Vorschriften des AufenthG zu prüfen sind, ist es nach der Rechtsprechung des BSG (vgl BSG vom 30.1.2013 - B 4 AS 54/12 R = BSGE 113, 60 = SozR 4-4200 § 7 Nr 34) unerheblich, ob dem Unionsbürger ein Aufenthaltstitel nach dem AufenthG tatsächlich erteilt worden ist. Entscheidend ist vielmehr, ob ihm ein solcher Titel zu erteilen wäre.
3. § 28 Abs 1 S 1 Nr 3 AufenthG findet aufgrund des Gleichbehandlungsgrundsatzes nach Art 18 AEUV auf minderjährige Unionsbürger und ihre Eltern Anwendung. Hat das minderjährige Kind eines Unionsbürgers ein materielles Aufenthaltsrecht, so kann dessen Elternteil hieraus seinerseits ein Aufenthaltsrecht nach § 11 Abs 1 S 11 FreizügG iVm § 28 Abs 1 S 1 Nr 3 AufenthG ableiten, wenn er dem Kind gegenüber in Deutschland sein Sorgerecht ausübt.
Normenkette
FreizügG/EU § 2 Abs. 2 Nr. 1 a.F., Nr. 2 a.F., Nr. 3 a.F., Nr. 4 a.F., Nr. 5 a.F., Nr. 7 a.F., Abs. 3 S. 1 Nr. 2 a.F., S. 2 a.F., § 3 Abs. 2 Nr. 1 a.F., § 4 a.F., § 4a a.F., § 11 Abs. 1 S. 11 a.F.; AufenthG § 5 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3; SGB II § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 Buchst. b; AEUV Art. 18 Abs. 1; GG Art. 6 Abs. 1, 2 S. 1, Abs. 3; BGB § 1606 Abs. 3 S. 2
Tenor
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts für das Saarland vom 14.08.2019 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist ein Anspruch der Klägerin auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) in der Zeit vom 01.10.2017 bis 26.02.2018.
Die 1996 geborene Klägerin bewohnt zusammen mit ihrem 1991 geborenen Lebensgefährten A. Mi. und den beiden gemeinsamen Kindern As. Mi. (geboren 2014) und R. Mi.a (geboren 2017), welche allesamt die bulgarische Staatsangehörigkeit besitzen, eine in der A-Straße in A-Stadt gelegene Wohnung.
Nachdem sämtlichen 4 Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft - seinerzeit wohnhaft unter der Anschrift G.-Straße 6 in A-Stadt - mit Bescheid vom 09.02.2017 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 06.03.2017 Leistungen für die Zeit vom 01.03.2017 bis 31.08.2017 bewilligt worden waren, hob der Beklagte die Leistungsbewilligung mit Bescheid vom 30.03.2017 ab dem 01.04.2017 ganz mit der Begründung auf, verschiedene Einladungsschreiben an den Lebensgefährten der Klägerin hätten nicht zugestellt werden können. Den in der Folge gestellten Weiterbewilligungsantrag vom 13.04.2017 lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 30.05.2017 mit der Begründung ab, ein Leistungsanspruch bestehe nicht, weil der Lebensgefährte der Klägerin ein Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland allein zum Zweck der Arbeitssuche habe. Auf Antrag sämtlicher Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft verpflichtete das Sozialgericht für das Saarland (SG) den Beklagten mit Beschluss vom 17.07.2017 - S 26 AS 76/17 ER - im Wege der einstweiligen Anordnung den Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft ab dem 13.06.2017 bis 31.08.2017 vorläufig Leistungen in Form der Regelleistungen zu gewähren. Die dagegen eingelegte Beschwerde des Beklagten wies der Senat mit Beschluss vom 29.11.2017 - L 4 AS 21/17 B ER - zurück.
Auf den Weiterbewilligungsantrag vom 04.10.2017 bewilligte der Beklagte dem Lebensgefährten der Klägerin und den beiden gemeinsamen Kindern mit Bescheid vom 09.11.2017 vorläufig Leistungen für die Zeit vom 01.10.2017 bis 31.10.2018. Ausweislich des in diesem Zusammenhang vorgelegten Arbeitsvertrages übte der Lebensgefährte der Klägerin ab dem 01.09.2017 eine abhängige Beschäftigung als Kommissionierer mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 20 Stunden zu einem monatlichen Bruttoentgelt in Höhe von 760,24 Euro aus. Den Antrag der Klägerin lehnte der Beklagte in demselben Bescheid sowie einem weiteren Bescheid vom 09.11.2017 mit der Begründung ab, diese besitze lediglich ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitssuche. Ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht als Familienangehörige ergebe sich nicht, da sie mit ihrem Lebensgefährten nicht verheiratet sei.
Ausweislich eines Pflegegutachtens des medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) Saarland vom 15.05.2018 wurde der gemeinsame Sohn As. Mi. seit dem 01.04.2018 in den Pflegegrad 2 eingestuft; der Pflegeaufwand der Klägerin als Pflegeperson ...