Entscheidungsstichwort (Thema)

Soziales Entschädigungsrecht. Impfschaden. Impfungen gegen Hepatitis A und Schweinegrippe (H1N1). chronisches Erschöpfungssyndrom. ursächlicher Zusammenhang. aktueller Stand der medizinischen Wissenschaft. Kann-Versorgung. sozialgerichtliches Verfahren. mögliche Beiladung des Unfallversicherungsträgers bei betrieblich veranlassten Impfungen

 

Orientierungssatz

1. Nach dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft lässt sich eine hinreichende Wahrscheinlichkeit der Verursachung eines chronischen Erschöpfungssyndroms (chronic fatigue syndrome - CFS) durch Impfungen gegen Hepatitis A und Schweinegrippe (H1N1) nicht feststellen.

2. Soweit fundierte wissenschaftliche Arbeitshypothesen für einen ursächlichen Zusammenhang im Sinne von Teil C Nr 4.3 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VMG) gegeben sein sollten, fehlt es nach Auskunft des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI) jedenfalls an einer hinreichenden Fundierung dieser Ansätze durch eine statistische Untermauerung, sodass auch eine Kann-Versorgung nach § 61 S 2 IfSG ausscheidet.

3. Die anders gelagerten Erkenntnisse zur Narkolepsie sind nicht auf das chronische Erschöpfungssyndrom übertragbar, da es sich um ein andere Krankheitsentität handelt.

4. Kommt in einem Impfschadensprozess nach einer betrieblich veranlassten Impfung (hier: einer Fachkrankenschwester für Intensivpflege) nur eine Kann-Versorgung ernsthaft in Betracht, besteht kein Anlass zur (einfachen) Beiladung des Trägers der gesetzlichen Unfallversicherung.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 27.04.2022; Aktenzeichen B 9 V 43/21 B)

 

Tenor

Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts für das Saarland vom 30.8.2017 aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Im Streit steht die Feststellung eines Impfschadens nach dem Infektionsschutzgesetz.

Die im Jahr 1978 geborene Klägerin war als Fachkrankenschwester für Intensivpflege und Anästhesie im M.krankenhaus in St. W. tätig. Am 17.11.2009 ließ sie sich vom Betriebsarzt der Klinik gegen Hepatitis A mit dem Impfstoff Havrix 1440 und gegen die Neue Influenza A (H1N1, „Schweinegrippe“) mit dem Impfstoff Pandemrix impfen (Blatt 1 Rs VA). Wegen Beschwerden, die sie auf die Impfung zurückführte, suchte sie am 28.12.2009 die Internistin S.-H. auf. Am 23.2.2010 wandte sie sich an den Betriebsarzt. In der Folgezeit war die Klägerin wiederholt in ärztlicher Behandlung.

Am 2.1.2012 beantragte die Klägerin beim Beklagten die Gewährung von Versorgung bei Impfschaden nach dem Infektionsschutzgesetz (IfSG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Sie gab an, vier Stunden nach der Impfung habe sie starke Schmerzen vom Becken bis in die Beine gehabt. In der folgenden Nacht sei es zur Lähmung betr. Arm und Schmerzen vom Becken bis in die Beine gekommen, circa zwei Wochen später zu Grippegefühl, Abgeschlagenheit/Kraftlosigkeit, starken Schmerzen vom Becken bis in die Beine/Übelkeit/Schwindel. Sie sei nicht belastbar. Als Impfschaden mache sie ein seit Dezember 2009 schubhaftes Auftreten von grippeähnlichen Symptomen mit ausgeprägter Abgeschlagenheit/Kraftlosigkeit/starken Muskelschmerzen/Konzentrationsverlust und Schwindel geltend, begleitet von akuten Schlafstörungen und starken Kopfschmerzen. Darüber hinaus bestehe Übelkeit seit Dezember 2009.

Das E. (PEI) - Bundesinstitut für Impfstoffe und biometrische Arzneimittel - machte auf Anfrage des Beklagten unter dem 18.1.2012 Angaben zur Freigabe der Impfstoffe.

Der Beklagte zog ärztliche Unterlagen sowie von der Krankenkasse der Klägerin Vorerkrankungsverzeichnisse bei. Die Krankenkasse reichte ein Vorerkrankungsverzeichnis unter dem 16.2.2012 und ein weiteres unter dem 6.3.2012 ein. Nach Eingang der ärztlichen Befundberichte legte der Beklagte den Vorgang seinem Ärztlichen Dienst (ÄD) vor. Dieser äußerte unter dem 27.3.2012 u.a., ein stationärer Aufenthalt sei vom 26.1.2011 bis 28.1.2011 bei Schmerzen, vom Becken in beide Oberschenkel ausstrahlend, und allgemeiner Kraftlosigkeit und Erschöpfung erfolgt. Als Diagnose sei ein pseudoradikuläres Schmerzsyndrom der Oberschenkel ohne Hinweise auf eine neurologische Genese festgehalten. Im April 2011 sei eine Abklärung bei rezidivierenden Erschöpfungszuständen unklarer Genese erfolgt, wobei von internistisch hämatologischer Seite sich für das Beschwerdebild keine Erklärung gefunden habe. Weitere Befunde dokumentierten die Diagnose einer sekundären Nebenniereninsuffizienz bei hypophysärem ACTH-Mangel. An wesentlichen Befunden sei festzuhalten, dass die serologischen Befunde immer unauffällig gewesen seien, es hätten weder antinukleäre Antikörper noch anti-neurophile cytoplasmatische Antikörper, wie sie bei einer etwaigen Immunreaktion induziert durch eine der beiden Impfungen zu fordern wären, nachgewiesen werden können. Die kernspintomographische Darstellung der Hypophyse sei immer unauffällig gewesen. Die Behandlung der hormonellen Störun...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge