Entscheidungsstichwort (Thema)
Voraussetzungen der Gewährung einer Entschädigung wegen eines Impfschadens nach Schutzimpfung gegen Influenza
Orientierungssatz
1. Der Anspruch des durch einen Impfschaden Geschädigten setzt nach § 60 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 IfSG die durch eine erfolgte Schutzimpfung eingetretene gesundheitliche Schädigung, d. h. eine Impfkomplikation sowie eine dauerhafte gesundheitliche Schädigung, den sog. Impfschaden, voraus.
2. Alle Fragen, insbesondere zur Kausalität von Gesundheitsstörungen, sind nach neuesten medizinischen Erkenntnissen zu beantworten. Die Ständige Impfkommission (STIKO) hat die maßgeblichen Kriterien für übliche Impfreaktionen entwickelt.
3. Bei einer durchgeführten Influenzaimpfung handelt es sich um eine öffentlich empfohlene Impfung.
4. Ist ein Guillain-Barre'-Syndrom (GBS) nicht nachgewiesen, sondern allein eine chronisch-inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie (CIDP), so ist die Gewährung einer Entschädigung wegen eines Impfschadens auf der Grundlage einer Schutzimpfung gegen Influenza mit dem Impfstoff Begrivac ausgeschlossen.
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 27.06.2019 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten der Klägerin sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um Rentenleistungen nach dem Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (IfSG) i.V.m. dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).
Die am 00.00.1959 geborene Klägerin ist gelernte Zahntechnikerin, verheiratet und hat zwei Kinder. Am 04.12.1995 wurde sie von ihrem damaligen Hausarzt Dr. H mit dem Präparat Begrivac 95 gegen Influenza geimpft. Bei dem zuletzt von Novartis vertriebenen Impfstoff Begrivac handelte es sich um ein inaktives Influenza-Virus. 2012 erlosch die Zulassung für diesen Impfstoff (Bekanntmachung Nr. 377 über die Zulassung von Impfstoffen vom 08.10.2012 des Paul-Ehrlich-Institutes - PEI). In der Fachinformation von Begrivac 2010/2011 (Stand: Mai 2010) werden als neurologische Nebenwirkungen, die in klinischen Studien beobachtet wurden, nur Kopfschmerzen angegeben. Als neurologische Nebenwirkungen, die nach Vermarktung berichtet wurden, werden Neuralgien, Parästhesien, Fieberkrämpfe, neurologische Erkrankungen wie z.B. Enzephalomyelitis, Neuritis und Guillain-Barré-Syndrom (GBS) genannt.
In der Patientenkartei von Dr. H wurden am 24.07.1996 Sensibilitätsstörungen und motorische Schwäche in der rechten unteren Extremität genannt, am 29.07.1997 ein Wurzelreizsyndrom rechts mit Sensibilitätsstörungen in den Zehen und am 10.06.1998 sowie 22.06.1998 Neuralgien bzw. Sensibilitätsstörungen der Arme und Beine. Im Dezember 1998 wurde in der damaligen Klinik und Poliklinik für Neurologie der Universität N erstmals eine chronisch-inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie (CIDP) diagnostiziert. Laut dem damaligen Bericht gab die Klägerin an, ab Januar 1996 aufsteigende Kribbelparästhesien/Taubheitsgefühl der Füße bis zur Kniekehle, zusätzlich Paresen der Beine und des Schultergürtels gehabt zu haben. Die Erkrankung CIDP besteht nach sämtlichen insofern übereinstimmenden Behandlungsberichten bis heute. Einmalig, nämlich im Entlassungsbericht der Klinik S über einen stationären Aufenthalt Ende 2008, wird als Diagnose "GBS (CIDP)" genannt. Die CIDP wurde wiederholt mit Immunglobulinen behandelt, wobei die Wirksamkeit der Behandlung nach Therapieende regelmäßig wieder nachließ.
2003 wurde wegen der Folgen der CIDP ein GdB von 50 und das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G", 2007 ein GdB von 60 und 2009 ein GdB von 70 festgestellt. Seit 2008 bezieht die Klägerin Rentenleistungen wegen voller Erwerbsminderung.
Am 05.11.2014 beantragte die Klägerin unter Vorlage diverser Unterlagen beim Beklagten Leistungen nach dem IfSG i.V.m. dem BVG. Infolge der Impfung mit Begrivac leide sie an einem GBS / einer CIDP. Der Beklagte zog Behandlungsunterlagen, die Akten des Kreises Warendorf zum Schwerbehindertenrecht sowie die Akten der Deutschen Rentenversicherung bei, holte Auskünfte der Krankenkasse der Klägerin sowie des PEI ein und ließ die Klägerin versorgungsärztlich durch die Sozialmedizinerin Dr. C untersuchen. Das PEI teilte mit, die CIDP sei als unbekanntes unerwünschtes Ereignis nach Impfung mit Begrivac nicht bekannt, das GBS werde dagegen in der Fachinformation genannt. Das PEI könne einen ursächlichen Zusammenhang einer CIDP nach Impfung mit Begrivac nicht abschließend beurteilen. Dr. C führte aus, ein GBS habe nicht vorgelegen. Eine Verursachung der CIDP durch die Impfung sei nicht wahrscheinlich, da es keine wissenschaftlichen Erkenntnisse über ein gehäuftes Auftreten einer CIDP nach Grippeimpfung gebe. Der Beklagte lehnte entsprechend den Antrag mit Bescheid vom 10.12.2015 ab. Die Klägerin legte am 05.01.2016 Widerspruch ein. Es sei ausreichend, dass ein plausibler zeitlicher Zusammenhang zwischen den ersten Symptom...