Entscheidungsstichwort (Thema)

Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopfer. Versterben des Tatopfers. Augenzeuge als Sekundäropfer. Fehlen einer personalen Beziehung. Erforderlichkeit der unmittelbaren Wahrnehmung bzw Kenntnis des schädigenden Vorgangs

 

Leitsatz (amtlich)

Auch Sekundäropfer sind grundsätzlich in den Schutzbereich des § 1 Abs 1 OEG einbezogen, wobei an den das Primäropfer schädigenden Vorgang anzuknüpfen ist. Hierbei müssen die psychischen Auswirkungen der Gewalttat beim Sekundäropfer bei wertender Betrachtung mit der Gewalttat so eng verbunden sein, dass beide eine natürliche Einheit bilden. Maßgebliches Kriterium für das Vorliegen eines solchen engen Zusammenhangs ist die zeitliche, örtliche und personale Nähe, wobei allerdings nicht alle Aspekte gleichermaßen vorzuliegen brauchen. Fehlt es an jedweder personalen Beziehung zum Primäropfer, kommt eine Gewährung von OEG-Leistungen nur ausschließlich in Betracht, wenn das Sekundäropfer unmittelbarer Augenzeuge des das Primäropfer schädigenden Vorganges geworden ist oder in sonstiger Weise Kenntnis von dem schädigenden Vorgang selbst - und nicht lediglich von den Auswirkungen bzw Folgen des schädigenden Vorganges - erlangt hat.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 04.03.2014; Aktenzeichen B 9 V 60/13 B)

 

Tenor

Auf die Berufung des Beklagten werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts für das Saarland vom 01.07.2011 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger als Zeugen einer Gewalttat Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) zustehen.

Am 02.09.2006 fand der 1984 geborene Kläger zusammen mit 2 Freunden auf dem Moselleinpfad zwischen B. und P. eine schwerverletzte Frau, die Opfer eine Gewalttat geworden war. Eine Hilfeleistung durch den Kläger oder dessen Begleiter war nicht möglich, da sich bei der schwer verletzten Frau ein aggressiver Dobermann befand, dessen Verhalten nicht einzuschätzen war. Auch den danach eintreffenden Rettungskräften und der Polizei war durch die Anwesenheit des Hundes ein Vordringen zu dem schwer verletzten Opfer zunächst nicht möglich. Erst nach dem Einfangen des Hundes durch einen Hundefänger konnten sich die Rettungskräfte um die verletzte Frau kümmern, die dennoch noch an der Fundstelle ihren schweren Verletzungen erlag.

Am 14.09.2007 beantragte der Kläger die Gewährung einer Beschädigtenversorgung nach dem OEG i.V.m. dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Zur Begründung führte er an, er leide aufgrund des erlebten Ereignisses vom 02.09.2006 an einer schweren Depression und Angstzuständen. Es sei ebenfalls zu einem Suizidversuch gekommen.

Mit Bescheid vom 30.01.2008 lehnte der Beklagte den Antrag des Klägers mit der Begründung ab, nach dem Rundschreiben des Bundesministers für Arbeit und Soziales vom 20.01.2006 könne Versorgung nach dem OEG unabhängig von der Beziehung zwischen unmittelbarem Opfer und Dritten gewährt werden, wenn ein Dritter Tatzeuge einer schweren vorsätzlichen Gewalttat, wie z.B. Mord, Totschlag, schwere Körperverletzung werde und durch dieses persönliche Miterleben einen Schockschaden erleide. Bei Dritten, die nicht Tatzeuge der Gewalttat gewesen seien, aber durch das Auffinden des getöteten oder verletzten Opfers einen Schockschaden erlitten, könne Versorgung nach dem OEG gewährt werden, wenn zwischen unmittelbarem Opfer und Dritten eine besondere emotionale Beziehung bestehe. Dies könne regelmäßig bei bestehenden intakten Ehen, bei nichtehelichen Lebensgemeinschaften sowie bei Eltern/Kindverhältnissen angenommen werden. Der Kläger sei weder Tatzeuge der Gewalttat gewesen, noch habe zwischen ihm und dem unmittelbaren Opfer eine besondere emotionale Beziehung bestanden. Das Auffinden einer schwer verletzten Person nach der Gewalttat und das Miterleben ihres Todes könne deshalb in seinem Fall keinen OEG-Anspruch begründen.

Gegen diesen Bescheid legte der Kläger Widerspruch ein, wobei er zur Begründung ausführte, dass es dem Sachverhalt hier gleichzusetzen sei, als ob er unmittelbar Zeuge der Gewalttat geworden wäre, denn er habe nicht nur einfach die Leiche gefunden, sondern sei Zeuge der unmittelbaren Auswirkungen der Gewalttat gewesen, da das Opfer bei Auffinden noch am Leben gewesen und im Beisein des Klägers gestorben sei. Die Tat sei erst kurz zuvor geschehen und der Kläger habe dem Opfer beim Sterben zusehen müssen, ohne ihm helfen zu können. Die Tat sei gegenwärtig gewesen, sodass der Kläger hier als Zeuge der Tat anzusehen sei. Des Weiteren habe er sich am Tatort für das Opfer verantwortlich gefühlt, sodass hier auch eine emotionale Bindung zwischen den beiden gegeben sei.

Der eingelegte Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 31.07.2008 als unbegründet zurückgewiesen.

Gegen den Widerspruchsbescheid hat der Kläger am 05.08.2008 Klage erhoben.

Das Sozialgericht für das Saarland (SG) hat einen Entlassungsbericht der Klinik in B.W.-R. beigezogen, wo sich...

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