Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Unionsbürger. Europarechtskonformität. Verfassungsmäßigkeit. keine vorläufige Leistungsbewilligung
Leitsatz (amtlich)
1. Die Ausschlussnorm des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II ist europarechtlich unbedenklich (vgl EuGH vom 11.11.2014 - C-333/13 = SozR 4-6065 Art 4 Nr 3 "Dano " und vom 15.9.2015 - C-67/14 = SozR 4-4200 § 7 Nr 49 "Alimanovic ").
2. Verfassungsrechtlich bestehen ebenfalls keine Bedenken gegen die Ausschlussnorm.
3. Auch eine lediglich vorläufige Bewilligung nach § 40 Abs 2 Nr 1 SGB II iVm § 328 Abs 1 S 1 Nr 2 SGB III kommt daher nicht in Betracht.
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Hamburg vom 22. September 2015 aufgehoben. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Der Antragsteller, ein bulgarischer Staatsangehöriger, begehrt im Wege der einstweiligen Anordnung Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II), nachdem der Antragsgegner die Weiterbewilligung abgelehnt hat, weil sich der Antragsteller nach Ablauf von sechs Monaten seit der letzten Beschäftigung nur zur Arbeitssuche im Bundesgebiet aufhalte. Er sei damit nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von Leistungen ausgeschlossen, weil sich sein Aufenthaltsrecht allein aus der Arbeitssuche ergebe.
Mit Beschluss vom 22. September 2015 hat das Sozialgericht dem Eilantrag stattgegeben. Der Leistungsanspruch des hilfebedürftigen und erwerbsfähigen Antragstellers folge aus § 19 Abs. 1 Satz 1 und 3, Abs. 3, § 20, § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II i.V.m. § 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II und § 328 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III). Danach könne - und müsse aufgrund einer Ermessensreduzierung - über die Erbringung von Geldleistungen vorläufig entschieden werden, wenn eine entscheidungserhebliche Frage von grundsätzlicher Bedeutung in einem Verfahren vor dem Bundessozialgericht anhängig sei. Das sei hier der Fall, da die Verfassungsmäßigkeit der Ausschlussvorschrift des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II vor dem Bundessozialgericht (u.a. Verfahren „Alimanovic - B 4 AS 9/13 R) anhängig sei. Die Vorschrift sei nach Auffassung des Sozialgerichts auch als verfassungswidrig anzusehen, so dass sich der Leistungsanspruch zudem im Wege einer Folgenabwägung gewinnen lasse. Denn der Ausschlusstatbestand verstoße gegen das Grundrecht auf Sicherung des Existenzminimums, wie es in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Asylbewerberleistungsgesetz (Urteil vom 18.7.2012 - 1 BvL 10/10 u.a.) ausgeformt worden sei. Danach hänge der individuelle Leistungsanspruch nicht vom Aufenthaltsstatus, sondern allein von dem tatsächlichen Aufenthalt im Bundesgebiet ab. Der Ausschlusstatbestand verstoße zudem gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG), da vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer mit Leistungsansprüchen nach § 1 Abs. 1 Nr. 5 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) bessergestellt würden als EU-Bürger auf Arbeitssuche, obwohl beide Personengruppen ohne weiteres in ihre jeweiligen Herkunftsländer zurückkehren könnten. Der Ausschlusstatbestand könne auch nicht gerechtfertigt werden mit einem Verweis auf möglicherweise bestehende Ansprüche auf Ermessensleistungen nach § 23 Abs. 1 Satz 3 oder § 73 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII), da der Gesetzgeber die verfassungsgemäße Bestimmung des Existenzminimums nicht über Ermessensvorschriften den Behörden und Gerichten überlassen dürfe.
Dagegen hat der Antragsgegner am 24. September 2015 Beschwerde erhoben.
II.
Die Beschwerde hat Erfolg. Sie ist statthaft und zulässig (§§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz - SGG) und auch begründet.
Das Sozialgericht hat den Antragsgegner zu Unrecht dazu verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig Leistungen nach dem SGB II zu gewähren.
Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes setzt einen Anordnungsanspruch voraus, also einen materiell-rechtlichen Anspruch auf die Leistung, zu der der Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet werden soll, sowie einen Anordnungsgrund, nämlich einen Sachverhalt, der die Eilbedürftigkeit der Anordnung begründet. Sowohl Anordnungsanspruch als auch Anordnungsgrund sind gem. § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. §§ 920 Abs. 2, 294 Zivilprozessordnung (ZPO) glaubhaft zu machen. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens, etwa wenn eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht möglich ist, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden, welchem Beteiligten ein Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache eher zuzumuten ist. Dabei sind die grundrechtlichen Belang...