Entscheidungsstichwort (Thema)

Arzneimittelregress wegen Verordnung eines nicht zugelassenen Arzneimittels. LeukoNorm. Wirtschaftlichkeitsgebot. Verkehrsfähigkeit aufgrund einer übergangsrechtlichen Position. Verordnung zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung. Off-Label-Use. Grundrechtsorientierte Auslegung. Verschulden des Vertragsarztes. Ermessen

 

Orientierungssatz

1. Rechtsgrundlage eines Arzneimittelregresses ist § 106 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 3 S. 3 SGB 5. Nach § 106 Abs. 5 SGB 5 entscheiden die Prüfgremien, ob der Vertragsarzt gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot verstoßen hat und welche Maßnahmen zu treffen sind.

2. Einer verordneten Arzneimitteltherapie fehlt es an der krankenversicherungsrechtlichen Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit, wenn das verwendete Mittel nach den Regelungen des Arzneimittelrechts einer Zulassung bedarf und diese Zulassung nicht erteilt worden ist. Wird das Arzneimittel trotz fehlender Verordnungsfähigkeit verschrieben, so ist Unwirtschaftlichkeit gegeben und dem Vertragsarzt eine unwirtschaftliche Verordnungsweise anzulasten.

3. Für die Verordnungsfähigkeit kommt es darauf an, dass im Verfahren der Zulassung des Arzneimittels eine Überprüfung der Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit erfolgt ist. Anderenfalls ist von dessen Unwirtschaftlichkeit auszugehen.

4. Etwas Anderes gilt unter den Voraussetzungen des sog. off label use. Dazu muss eine lebensbedrohliche Erkrankung vorliegen, eine andere Therapie nicht verfügbar sein und eine auf Indizien gestützte, nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf bestehen.

 

Normenkette

SGB V § 2 Abs. 1, § 12 Abs. 1, § 31 Abs. 1, § 106 Abs. 2 S. 1 Nr. 2, S. 4, Abs. 3, 5; AMG §§ 1, 4 Abs. 1

 

Tenor

1.

Die Berufung wird zurückgewiesen.

2.

Der Kläger trägt auch die Kosten des Berufungsverfahrens. Außergerichtliche Kosten der Beigeladenen werden nicht erstattet.

3.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Gründe

I.

Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit eines Arzneimittelregresses wegen der Verordnung des Medikaments LeukoNorm Cytochemia® (im Folgenden: LeukoNorm) für das Jahr 2005.

Der Kläger nimmt als Facharzt für Allgemeinmedizin mit Schwerpunkt Infektiologie an der vertragsärztlichen Versorgung im Bezirk der beigeladenen Kassenärztlichen Vereinigung teil. Das Arzneimittel LeukoNorm der Cytochemia AG war ein zulassungspflichtiges Fertigarzneimittel in der Darreichungsform Trockensubstanz und Lösungsmittel. Es war ein verschreibungspflichtiges Pulver zur Herstellung einer Injektionslösung (Auflösung in isotonischer Natriumchloridlösung), die intramuskulär zu injizieren war. Der Wirkstoff ist humanes Leukozyten-Ultrafiltrat, das aus den weißen Blutkörperchen gesunder Blutspender gewonnen wird. LeukoNorm wurde bei Erkrankungen der körpereigenen Abwehr als Immuntherapeutikum eingesetzt. Das Arzneimittel war in der DDR entwickelt und dort 1986 zugelassen worden und aufgrund dieser Zulassung dort verkehrsfähig. Aufgrund des Einigungsvertrages vom 3. Oktober 1990 in Verbindung mit § 2 Nr. 2 und Anlage 3 Kapitel II Nr. 1 § 4 Abs. 1 der Verordnung zur Überleitung des Rechts der Europäischen Gemeinschaften auf das in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannte Gebiet vom 18. Dezember 1990 (BGBl. I S. 2915) galt es als sog. DDR-Altarzneimittel auch im Gebiet der alten Bundesrepublik als zugelassen (sog. fiktive Zulassung) und war bei Stellung eines Verlängerungsantrags verkehrsfähig. Ein Wirksamkeitsnachweis nach den Regeln des Arzneimittelgesetzes (AMG) liegt einer fiktiven Zulassung nicht zugrunde. Eine Arzneimittelzulassung nach §§ 21 und 25 AMG liegt mit ihr nicht vor. Erst mit der Verlängerung des Arzneimittels - vgl. § 4 Abs. 2 der oben genannten Verordnung und § 105 AMG - ist die Prüfung der Wirksamkeit nach dem AMG abgeschlossen und hat das Arzneimittel eine Zulassung nach dem geltenden AMG. Ein Antrag auf Verlängerung der - fiktiven - Zulassung (sog. Nachzulassung) war im Juni 1991 durch die Cytochemia AG gestellt worden. Durch Bescheid des P.-Instituts vom 22. Dezember 2006 ist die beantragte Nachzulassung abgelehnt worden, weil die Wirksamkeit des Arzneimittels in keiner der beantragten Indikationen in einer wissenschaftlich fundierten Weise nachgewiesen worden sei. Die gegen diesen Bescheid erhobene Klage des Herstellers hat das Verwaltungsgericht D. durch Urteil vom 16. Dezember 2010 abgewiesen.

Am 9. August 2007 leitete der Prüfungsausschuss der Ärzte und Krankenkassen in H. bzw. die Gemeinsame Prüfstelle der Ärzte und Krankenkassen in H. wegen Überschreitens des Richtgrößenvolumens für Arzneimittel Prüfungsverfahren gegen den Kläger ein.

Mit Beschluss vom 11. Dezember 2007 setzte der Prüfungsausschuss einen Regress in Höhe von 69.316 Euro für das Jahr 2005 fest. Dabei hatte er von der erklärungsbedürftigen Überschreitung der Richtgröße in Höhe von 215.921 Euro diejenigen Verordnungskosten, die sich durch Praxisbesonderheiten erklären ließen oder unklar waren,...

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