Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Kostenerstattung. Psychotherapie. Systemversagen. Nachweis
Orientierungssatz
Zum Nachweis, dass kein anderer als ein außervertraglicher Psychotherapeut für die Behandlung zur Verfügung steht (sog Systemversagen).
Tenor
1. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird unter Aufhebung des Beschlusses des Sozialgerichts Hamburg vom 8. Mai 2022, in welchem die Antragsgegnerin zur vorläufigen Übernahme der Kosten für bis zu 4 probatorische Sitzungen sowie einer Kurzzeittherapie im Umfang von bis zu 24 Einzelsitzungen bei dem Dipl. Psych. B.C. gemäß Kostenvoranschlag vom 1. Dezember 2021 verpflichtet wurde, abgelehnt.
2. Außergerichtliche Kosten sind in beiden Instanzen nicht zu erstatten.
Gründe
Die am 23. Mai 2022 eingelegte Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Hamburg vom 8. Mai 2022 ist statthaft und zulässig (§§ 172, 173 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG). Sie ist auch begründet.
I.
Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes setzt in diesem Zusammenhang einen Anordnungsanspruch voraus, also einen materiell-rechtlichen Anspruch auf die Leistung, zu welcher die Antragsgegnerin im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet werden soll, sowie einen Anordnungsgrund, nämlich einen Sachverhalt, der die Eilbedürftigkeit der Anordnung begründet. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind nach § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit § 920 Abs. 2, § 294 Zivilprozessordnung (ZPO) glaubhaft zu machen.
Die Antragstellerin hat zur Überzeugung des Senates einen Anordnungsanspruch - noch - nicht glaubhaft gemacht. Ob darüber hinaus auch ein Anordnungsgrund besteht, bedarf daher keiner weiteren Ausführungen.
Die rechtlichen Grundlagen für einen Anspruch auf eine ambulante Psychotherapie in Form von 4 probatorischen Sitzungen und einer Kurzzeittherapie im Umfang von bis zu 24 Einzelsitzungen hat das Sozialgericht zutreffend dargestellt. Hierauf wird Bezug genommen. Der psychotherapeutische Bedarf der Antragstellerin ist unstreitig, ebenso deren grundsätzlicher Sachleistungsanspruch auf ambulante Psychotherapie, zunächst in Form von 4 probatorischen Sitzungen und im Anschluss einer Kurzzeittherapie im Umfang von bis zu 24 Einzelsitzungen. Dies ist durch entsprechende Bescheinigungen der Antragstellerin hinreichend glaubhaft gemacht und wird auch von der Antragsgegnerin nicht in Zweifel gezogen. In ihrer Bescheinigung vom 22. November 2021 attestierte die gerade nicht behandelnde Psychologische Psychotherapeutin, Frau S., der Antragstellerin eine "Krankheit" im Sinne des SGB V in Form einer rezidivierenden depressiven Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode (F 33.1 G) und eine generalisierte Angststörung (F 41.1. G). Zugleich wies sie darauf hin, dass eine Langzeittherapie, gegebenenfalls auch beginnend als Kurzzeittherapie, dringend erforderlich sei, um eine Symptomverschlimmerung und Chronifizierung (= stationärer Aufenthalt) zu vermeiden, diese in ihrer Praxis aber nicht durchgeführt werden könne.
Aufgrund des Vorbringens der Antragsgegnerin im Beschwerdeverfahren und der Reaktion der Antragstellerin insbesondere auf die Nachfragen des Senats hierauf geht der Senat abweichend von der Ansicht des Sozialgerichts allerdings derzeit davon aus, dass ein Anordnungsanspruch für eine systemwidrige privatärztliche - statt einer systemkonformen kassenärztlichen - Versorgung der Antragstellerin in Form des sogenannten Systemver-sagens noch nicht hinreichend überzeugend glaubhaft gemacht worden ist.
Dieses Systemversagen führt nicht zu der Einbeziehung des von der Antragstellerin gewünschten und nicht zugelassenen Therapeuten B.C. in das Sachleistungssystem der Gesetzlichen Krankenversicherung, sondern zu der Anwendbarkeit von § 13 Abs. 3 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) - hier in der Konstellation eines Freistellungsanspruches (vgl. BSG, Urt. v. 18.07.2006 - B 1 KR 24/05 R -, Rn. 30ff bei juris). Ein Notfall im Sinne des § 76 Abs. 1 Satz 2 SGB V, wonach andere Ärzte (Psychotherapeuten) nur in Notfällen in Anspruch genommen werden dürfen, liegt hier nicht vor. Ein Notfall liegt grundsätzlich vor, wenn die Behandlung aus medizinischen Gründen so dringend ist, dass es bereits an der Zeit für die Auswahl eines zugelassenen Therapeuten und dessen Behandlung, entweder durch dessen Aufsuchen oder Herbeirufen, fehlt (so: BSG, Urteil vom 23.06.2015 -
B 1 KR 20/14 R -; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 08.10.2018 - L 11 KR 720/17 -). Dieses Ausmaß an Dringlichkeit besteht vorliegend nicht.
Überdies ist auch in einem solchen Fall ein Kostenerstattungs- (oder Freistellungs-) anspruch des Versicherten ausgeschlossen, da der Leistungserbringer seine Vergütung nicht vom Versicherten, sondern nur von der Kassenärztli...