Entscheidungsstichwort (Thema)
Gewaltopferentschädigung. Anwendbarkeit der Abfindungsregelung des § 1 Abs 7 S 1 Nr 2 OEG. nichtprivilegierter Ausländer. Positivstaatler. Nichterforderlichkeit einer Aufenthaltsgenehmigung. Ausreise. rückwirkende Bewilligung einer Versorgung nach § 1 Abs 4 OEG
Orientierungssatz
1. Zur Anwendung der Abfindungsregelung des § 1 Abs 7 S 1 Nr 2 OEG bei Ausländern die als sog Positivstaatler keiner Aufenthaltsgenehmigung bedurften und das Bundesgebiet verlassen haben.
2. Eine rückwirkende Bewilligung einer Versorgung nach § 1 Abs 4 OEG kommt nicht in Betracht. Gemäß § 40 Abs 1 SGB 1 entstehen Ansprüche auf Sozialleistungen, sobald ihre im Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes bestimmten Voraussetzungen vorliegen. Daraus mag sich vielleicht ergeben, dass die einzelnen Tatbestandsvoraussetzungen, auch des Opferentschädigungsgesetzes, nicht vom selben Zeitpunkt an vorliegen müssen, sondern auch nacheinander erfüllt werden können. Ein Anspruch auf eine Sozialleistung steht dem Berechtigten allerdings erst dann zu, wenn sämtliche im Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes geregelten materiell rechtlichen Anspruchsvoraussetzungen vorliegen. Ist es danach unter Umständen möglich, in den Anspruch "hineinzuwachsen" (vgl BSG vom 8.11.2007 - B 9/9a VG 3/05 R = SozR 4-3800 § 1 Nr 12), so bedeutet dies zugleich, dass die Ansprüche nicht rückwirkend entstehen können (vgl BSG vom 11.3.1998 - B 9 VG 2/96 R = SozR 3-3800 § 1 Nr 13).
3. Eine rückwirkende Geltung des § 1 Abs 4 OEG folgt auch nicht daraus, dass die Bundesrepublik Deutschland von der Bestimmung des Art 18 Abs 2 der Richtlinie 2004/80/EG des Rates vom 29. 4. 2004 (juris: EGRL 80/2004), wonach Mitgliedstaaten vorsehen können, dass die Vorschriften, die erforderlich sind, um der Richtlinie nachzukommen, nur auf Antragsteller Anwendung finden, deren Schädigung aus Straftaten resultiert, die nach dem 30. Juni 2005 begangen wurden, nicht ausdrücklich Gebrauch gemacht hat. Denn für die Bundesrepublik Deutschland war eine Umsetzung der Richtlinie nicht mehr nötig, da sie bereits zuvor - und dazu gehört auch die hier anzuwendende Abfindungsregelung in § 1 Abs 7 OEG - angemessene Entschädigungsregelungen im Sinne von Art 12 und Abs 6, Abs 8 der Präambel der Richtlinie eingeführt hatte.
Nachgehend
Tatbestand
Die Beteiligten streiten, ob die Beklagte Ansprüche der Klägerin nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) abfinden durfte.
Die im Jahre 1973 geborene Klägerin stammt aus Polen und ist polnische Staatsangehörige. Ihre Großmutter namens K.S. ebenfalls polnische Staatsangehörige, wohnte seit 1994 ununterbrochen rechtmäßig mit Aufenthaltserlaubnis im Bundesgebiet (Bremen).
Die Klägerin war vor dem 6. Dezember 1998 als sogenannte Positivstaatlerin für ein paar Wochen unter Befreiung vom Erfordernis der Aufenthaltsgenehmigung für Kurzaufenthalte nach § 1 Abs. 1 der Durchführungsverordnung zum Ausländergesetz (1990), also ohne Visum in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. In der Nacht vom 6. auf den 7. Dezember 1998 wurde sie in Hamburg-Allermöhe unter schwerer Gewaltanwendung mehrfach vergewaltigt. Sie hielt sich sodann noch bis zum 21. Dezember 1998 in Deutschland auf, an welchem Tage sie nach Polen zurückkehrte. Spätestens im Mai 1999 wie auch in der Folgezeit in kürzeren Abständen reiste die Klägerin wiederholt aus Polen in die Bundesrepublik Deutschland ein.
Am 25. März 1999 beantragte die Klägerin bei der Beklagten Versorgung nach dem OEG. Mit Bescheid vom 4. Juli 2000 stellte die Beklagte fest, dass die Klägerin am 7. Dezember 1998 Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs geworden sei und erkannte als Schädigungsfolge eine posttraumatische Belastungsstörung nach Vergewaltigung an, wodurch eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) in Höhe von 25 % bedingt sei. Für den Monat Dezember 1998 sprach die Beklagte der Klägerin eine Grundrente in Höhe von 217 DM zu. Im Übrigen bewilligte sie ihr eine Abfindung in Höhe des Zehnfachen dieses Betrages (2.170 DM) sowie Zinsen. In der Begründung des Bescheides heißt es, nach § 1 Abs. 7 OEG erhalte ein anspruchsberechtigter Ausländer für jedes begonnene Jahr seines ununterbrochen rechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet eine Abfindung in Höhe des Dreifachen, insgesamt jedoch mindestens in Höhe des Zehnfachen, höchstens in Höhe des Dreißigfachen der monatlichen Grundrente, wenn das Bundesgebiet verlassen worden und die Aufenthaltsgenehmigung erloschen sei. Als Polin habe die Klägerin das Bundesgebiet am 21. Dezember 1998 verlassen. Bis zu diesem Zeitpunkt habe sie sich als Touristin rechtmäßig hier aufgehalten. Beim Verlassen des Bundesgebiets habe jedoch der rechtmäßige Aufenthalt geendet.
Die Klägerin erhob Widerspruch und wandte sich gegen die Abfindungsregelung. Man habe nicht berücksichtigt, dass sie innerhalb von sechs Monaten erlaubt wieder eingereist sei.
Mit Widerspruchsbescheid vom 23. Mai 2003 wies die Beklagte den Widerspruch der ...