Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht. Merkzeichen aG. außergewöhnlichen Gehbehinderung. erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung. autistisches Kind mit Spontanverhalten und Weglauftendenzen. verminderte Gehfähigkeit. Anknüpfung an bisherige Rechtsprechungsgrundsätze. Dauerhaftigkeit. Rollstuhlerfordernis. starker Bewegungsdrang
Orientierungssatz
1. Das Merkzeichen aG (außergewöhnliche Gehbehinderung) setzt voraus, dass die Einschränkung der Gehfähigkeit dauerhaft besteht. Krankheitsbedingt nur phasenweise Einschränkungen (hier: unvermitteltes Loslaufen eines an Autismus erkrankten Kindes) genügen dagegen zur Zuerkennung des Merkzeichens nicht.
2. Für Fallgestaltungen, bei denen auf die erforderliche Einschränkung bei der Gehfähigkeit abgestellt wird, kann auch nach der gesetzlichen Verankerung des Merkzeichens aG in § 146 Abs 3 SGB 9 bzw § 229 Abs 3 SGB 9 2018 auf die Vergleichsmaßstäbe aus der bisherigen Rechtsprechung zum Merkzeichen aG zurückgegriffen werden.
3. Bei einer Hirnleistungsschwäche (hier: Autismus und Entwicklungsverzögerung) kann von einer verminderten Gehfähigkeit als Voraussetzung der Zuerkennung des Merkzeichens aG nur dann ausgegangen werden, wenn aufgrund der erheblichen Selbstgefährdung oder Gefährdung Dritter eine verantwortungsbewusste Begleitperson den schwerbehinderten Menschen im innerstädtischen Fußgängerverkehr nicht mehr führen, sondern regelmäßig nur noch im Rollstuhl befördern würde (vgl BSG vom 13.12.1994 - 9 RVs 3/94 = SozR 3-3870 § 4 Nr 11).
4. Dies ist dann nicht der Fall, wenn der Transport in einem Rollstuhl kontraproduktiv wäre, weil der schwerbehinderte Mensch einen zu starken Bewegungsdrang hat.
Tenor
1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts vom 13. September 2017 wird zurückgewiesen.
2. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
3. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um das Merkzeichen aG (außergewöhnliche Gehbehinderung).
Der 1998 geborene und unter gesetzlicher Betreuung seiner Eltern stehende Kläger beantragte 2002 erstmals die Feststellungen nach dem Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) bei der Beklagten. Mit Feststellungsbescheid vom 10. April 2003 wurden wegen einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung ein Grad der Behinderung (GdB) von 70 und die Merkzeichen B (Berechtigung zur ständigen Begleitung) und H (Hilfslosigkeit) festgestellt. Aufgrund eines Neufeststellungsantrags im August 2013 stellte die Beklagte mit Bescheid vom 17. April 2014 einen GdB von 100 wegen einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung und zusätzlich das Merkzeichen G (erhebliche Gehbehinderung) fest. Mit seinem Neufeststellungsantrag vom 4. März 2015 beantragte der Kläger auch die Feststellung des Merkzeichens aG. Zur Begründung legte er eine Stellungnahme seines behandelnden Arztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie Dr. C. bei. Dieser führte aus, aufgrund der besonderen Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der autistischen Erkrankung des Klägers ergäben sich Probleme an der Teilnahme des öffentlichen Lebens, insbesondere auf der Straße. Der Kläger gerate teils massiv unter Druck, wenn er Dinge nicht verstehe oder wenn Dinge längere Zeit in Anspruch nehmen würden. Er schmeiße sich beispielsweise auf den Boden und lasse sich nicht aufheben. Er werde auf den Fußwegen mitunter sehr aggressiv und betrete dann unvermittelt die Fahrbahn. Um die Zeit von der Wohnung zum Auto zuverlässig zu verkürzen, empfahl Herr Dr. C. die Einrichtung einer Parkerleichterung und die Gewährung des Merkmals aG, weil beim Kläger jederzeit die Gefahr bestehe, dass er weglaufe und sich dadurch erheblich in Gefahr bringe. Nachdem die Beklagte das Pflege-gutachten des Klägers, einen Befundbericht von Herrn Dr. C. und eine Stellungnahme ihres ärztlichen Dienstes eingeholt hatte, stellte sie mit Bescheid vom 10. Juni 2015 fest, dass weiterhin ein GdB von 100 wegen einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung bestehe. Ebenso seien die Merkzeichen G, B, H und zusätzlich RF (Ermäßigung der Rundfunkgebühr) festzustellen. Die Voraussetzungen für das Merkzeichen aG seien nicht erfüllt. Hiergegen legte der Kläger am 1. Juli 2015 Widerspruch ein, der mit Widerspruchsbescheid vom 6. Juli 2015 zurückgewiesen wurde.
Am 3. August 2015 hat der Kläger Klage vor dem Sozialgericht Hamburg erhoben mit dem Ziel der Feststellung der Voraussetzungen für das Merkzeichen aG. Zur Begründung hat er vorgetragen, außergewöhnlich gehbehindert zu sein, weil er sich wegen der Schwere seines Leidens nur mit fremder Hilfe fortbewegen könne. Er leide an einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung. Es lägen geistige und körperliche Einschränkungen seiner Gehfähigkeit vor. Unter Berücksichtigung der UN-Behindertenrechtskonvention sei bei ihm das Merkzeichen aG festzustellen.
In der mündlichen Verhandlung hat der Betreuer des Klägers, sein Vater, geschildert, dass der Kläger zunehmend aggressiv werde und auch weglaufe, wenn er, der Vater, wegen des Mang...