Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht. Merkzeichen aG. außergewöhnliche Gehbehinderung. keine Notwendigkeit der Beeinträchtigung des körperlichen Gehvermögens. geistige Behinderung. atypischer Autismus. unkontrollierter Bewegungsdrang. willkürliche Bewegungen. Erforderlichkeit eines Rollstuhls im innerstädtischen Fußgängerverkehr
Orientierungssatz
Das Merkzeichen aG setzt nicht notwendig eine Beeinträchtigung des körperlichen Gehvermögens voraus. Vielmehr ist das Merkzeichen aG auch dann zuzuerkennen, wenn der behinderte Mensch aufgrund einer geistigen Behinderung (hier: atypischer Autismus) im innerstädtischen Fußgängerverkehr zum Ausschluss von Eigen- oder Fremdgefährdung dauerhaft im Rollstuhl geführt werden muss.
Tenor
Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 20.02.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.04.2020 verurteilt, für die Klägerin das Merkzeichen aG festzustellen.
Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Feststellung des Merkzeichens aG (außergewöhnliche Gehbehinderung).
Die 2001 geborene Klägerin leidet an einer geistigen Behinderung in Gestalt einer globalen Entwicklungsstörung bei atypischem Autismus und Partialepilepsie mit Kleinhirnhypoplasie sowie an Kleinwuchs. Für sie sind ein Grad der Behinderung (GdB) von 100, die Merkzeichen G (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr), B (Berechtigung für eine ständige Begleitung) und H (Hilflosigkeit) sowie Pflegegrad 4 festgestellt.
Im Oktober 2019 beantragte die Klägerin die Feststellung des Merkzeichens aG. Nach Auswertung psychiatrischer und pädiatrischer Befundberichte sowie von Pflege- und Betreuungsgutachten lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 20.02.2020 den Antrag mit der Begründung ab, dass keine Vergleichbarkeit mit den gesetzlich normierten Regelbeispielen bestünde.
Gegen diesen Bescheid erhob die Klägerin Widerspruch. Auf Grund ihrer psychischen Einschränkungen verweigere sie mehrmals täglich die Fortbewegung, werfe sich auf den Boden und sei nur unter großem körperlichen Einsatz ihrer Begleitperson dazu zu bringen, wieder aufzustehen. Um sich auch über kürzere Strecken halbwegs kontinuierlich fortbewegen zu können, sei sie auf einen Rollstuhl angewiesen; ihre Gehfähigkeit sei daher mit den für das Merkzeichen aG aufgelisteten Regelbeispielen sehr wohl vergleichbar eingeschränkt. Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 23.04.2020 als unbegründet zurückgewiesen.
Die Klägerin hat im Mai 2020 Klage erhoben und verfolgt ihr Begehren weiter. Sie benötige für jeden Ausflug einen Rollstuhl, da ihre psychische Beeinträchtigung eine adäquate Umsetzung ihres körperlichen Restleistungsvermögens unmöglich mache. Ferner bestehe jederzeit die Gefahr eines unmittelbaren Losreißens und einer damit verbundenen Selbst- oder Drittgefährdung. Zu derartigen Anfällen komme es im Durchschnitt an etwa fünf Tagen pro Woche. Sie sei aus medizinischer Sicht auf die Nutzung eines Rollstuhls angewiesen.
Die Klägerin beantragt,
den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 20.02.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.04.2020 zu verurteilen, ihr das Merkzeichen aG zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
Klage abzuweisen.
Er hält den angefochtenen Bescheid für zutreffend.
Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung von Befundberichten des Hauses X. und des T. D. Auf den Inhalt dieser Berichte wird verwiesen. Ferner das Gericht Beweis erhoben durch Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens des Neurologen Dr. L. Der Sachverständige bewertet den mobilitätsbezogenen GdB der Klägerin mit 80 und beschreibt die Erforderlichkeit eines dauerhaften Leitens an der Hand zur Gefahrenabwehr. Es bestehe keine medizinische Notwendigkeit zur dauerhaften Verwendung eines Rollstuhls. Wegen der Einzelheiten wird auf den Inhalt des Sachverständigengutachtens Bezug genommen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Sitzungsniederschrift vom 17.11.2021, der Beteiligtenschriftsätze, der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen. Diese sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§§ 54 Abs. 1 und Abs. 4, 56 Sozialgerichtsgesetz (SGG)) statthaft und auch im Übrigen zulässig. Sie zudem begründet. Der Bescheid vom 20.02.2020 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 23.04.2020 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 54 Abs. 2 SGG). Denn die Klägerin hat einen Anspruch auf die Feststellung des Merkzeichens aG.
Gemäß § 152 Abs. 4 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) treffen die zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen über weitere gesundheitliche Merkmale als Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen. Die Voraussetzungen für die Feststellung einer außergewöhnlichen...