Entscheidungsstichwort (Thema)

Voraussetzungen der Anerkennung einer posttraumatischen Belastungsstörung als Folge eines Arbeitsunfalls

 

Orientierungssatz

1. Bei der Anerkennung einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) als Folge eines Arbeitsunfalls hat der Unfallversicherungsträger bzw. das Gericht stets den Versicherten in den Blick zu nehmen und darf nicht von einem fiktiven Durchschnittsmenschen ausgehen.

2. Das Erleiden einer seelischen Traumatisierung und das Vorliegen entsprechender psychischer Störungen muss nachgewiesen sein, deren Verursachung durch das Unfallereignis muss hinreichend wahrscheinlich sein.

3. Stehen andere Erkenntnisquellen nicht zur Verfügung, so darf das Gericht bei der Beurteilung des Kausalzusammenhangs seine Überzeugung aus den Angaben des Betroffenen bilden.

 

Normenkette

RVO § 539 Abs. 1 Nr. 1, § 548 Abs. 1 S. 1; UVEG Art. 36; SGB VII § 212; ZPO § 402; SGG § 118 Abs. 1 S. 1

 

Tenor

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 8. November 2012 wird zurückgewiesen.

2. Die Beklagte trägt auch die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin für das Berufungsverfahren.

3. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Es geht (noch) um die Feststellung einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) "leichter Ausprägung mit chronifiziertem Verlauf" als Folge des Arbeitsunfalls vom 24. Dezember 1992.

Hinsichtlich des Sachverhalts bis zum Abschluss des erstinstanzlichen Verfahrens wird auf den Tatbestand des Urteils des Sozialgerichts Hamburg vom 8. November 2012 verwiesen. Das Sozialgericht hat der Klage stattgegeben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 16. Juli 2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. März 2010 zur Feststellung einer "PTBS leichter Ausprägung mit chronifiziertem Verlauf" als Folge des Arbeitsunfalls vom 24. Dezember 1992 und zur Gewährung von Entschädigungsleistungen verurteilt.

Gegen diese Entscheidung hat die Beklagte Berufung eingelegt. Die erstinstanzliche Entscheidung sei unzutreffend, denn sie stütze sich maßgeblich auf das Gutachten von Dr. N., welches aber erhebliche formale und inhaltliche Mängel aufweise. Es sei weiter streitig, ob eine PTBS bei der Klägerin vorliege. Zwar sei das A1-Kriterium zu bejahen, aber das A2-Kriterium sei nicht hinreichend geprüft. Die initiale Reaktion müsse nachgewiesen sein, und zwar zeitnah zum Ereignis. Die Klägerin habe sich jedoch nach dem Ereignis nicht auffällig benommen, sondern ihre Aussage vor der Polizei gemacht und weitergearbeitet. Soweit sich das Sozialgericht auf Widder und Förster beziehe, die eine "Schockphase" nach sehr schweren traumatischen Ereignissen annehmen, so sei hier fraglich, ob ein Raubüberfall ein derartig schweres Ereignis sei. Weiter fehle es an dem B-Kriterium in Form von Flashbacks und Intrusionen. Ein bloßes Denken an das Ereignis reiche dafür nicht, auch nicht die Angst in ähnlichen Situationen oder Alpträume mit entferntem Bezug zu dem Ereignis. Ebenfalls lasse sich kein traumaspezifisches Vermeidungsverhalten feststellen (C-Kriterium). Allein das Vorliegen des D-Kriteriums sei zu unspezifisch, um die Erkrankung zu beweisen. Die Befunde einer PTBS seien von der unfallunabhängigen Depression und der Zwangsstörung nicht ausreichend abgegrenzt. Es fehle die Auswertung des ungewöhnlichen zeitlichen Ablaufs der Beschwerdeentwicklung, der langen Latenz und die kritische Hinterfragung der Angaben der Klägerin.

Die Beklagte stellt den Antrag, das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 8. November 2012 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 16. Juli 2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. März 2010 abzuweisen.

Die Klägerin stellt den Antrag, die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Sie ist der Auffassung, das erstinstanzliche Urteil sei zutreffend. Die Reaktion auf den Überfall sei in der Schilderung in der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht noch aktuell spürbar gewesen. Die behandelnde Ärztin R. schildere dies ebenfalls in ihren Berichten. Das Verhalten des Arbeitgebers sei dafür verantwortlich, dass nicht früher ärztliche oder psychologische Hilfe in Anspruch genommen worden sei. Dennoch sei es nicht gelungen, das Erlebnis zu verdrängen. Schon die Aufgabe des Schalterdienstes belege das Vermeidungsverhalten im Sinne des C-Kriteriums. Bei der Länge der Latenz sei zu berücksichtigen, dass nicht nur ein Überfall durchlebt werden worden sei.

Nachdem der Neurologe/Psychiater Dr. N. schon in seinen ergänzenden Stellungnahmen vom 1. Mai 2012 und 8. August 2012 und in seiner Vernehmung in der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht am 8. November 2012 auf die Kritik insbesondere der Beklagten eingegangen ist, hat er im Berufungsverfahren erneut im schriftlichen Gutachten vom 27. Juni 2014 und der Anhörung in der Verhandlung am 1. Juli 2014 dargelegt, dass seiner Auffassung nach alle Kriterien für das Vorliegen einer PTBS bei der Klägerin erfüllt sind. Hinsichtlich der Einzelheiten seiner Aufführungen wird auf das s...

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