Entscheidungsstichwort (Thema)

Schwerbehindertenrecht. Versorgungsmedizinische Grundsätze. keine generelle Anerkennung der Adipositas als Behinderung. kein GdB bei Berücksichtigung der Auswirkungen in anderen Funktionsbereichen. kein Widerspruch zur EuGH-Rechtsprechung. sozialgerichtliches Verfahren. Bescheid mit GdB-Festsetzung und Ablehnung von Merkzeichen. Widerspruch und Klage gegen die GdB-Festsetzung. Bestandskraft der Ablehnung von Merkzeichen. gesonderte und abtrennbare Entscheidung. Annahme eines beschränkten Widerspruchs. Unzulässigkeit der Weiterverfolgung der Merkzeichen im späteren Klageverfahren

 

Orientierungssatz

1. Die Rechtsprechung des EuGH, in der festgestellt worden ist, dass das Vorliegen einer Adipositas eine "Behinderung" sei (vgl EuGH vom 18.12.2014 - C-354/13 = AP Nr 30 zu Richtlinie 2000/78/EG = EzA Richtlinie 2000/78 EG-Vertrag 1999 Nr 38), bezieht sich auf die Richtlinie über die Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (juris: EGRL 78/2000) und damit auf die Frage möglicher Diskriminierungen im Berufs- und Geschäftsleben, nicht hingegen solche im Bereich der Gewährung von Vorteilen im Recht der Teilhabe nach dem SGB 9 2018. Die EGRL 78/2000 hat hiermit keine relevanten Berührungspunkte.

2. Ein Grad der Behinderung (GdB) für eine Adipositas ist nach Teil B Nr 15.3 VMG (Anlage zu § 2 VersMedV) auch dann nicht in Ansatz zu bringen, wenn die Folgewirkungen bereits in anderen Funktionsbereichen ausreichend berücksichtigt worden sind.

3. Hat der Kläger gegen einen Bescheid, in welchem ein GdB festgesetzt und zugleich die Zuerkennung von Merkzeichen abgelehnt wurde, einen Widerspruch nur im Hinblick auf die GdB-Festsetzung und nicht auch ausdrücklich im Hinblick auf die Ablehnung der Merkzeichen eingelegt, so kann die Ablehnung von Merkzeichen bestandskräftig werden, sodass jene im späteren Klageverfahren nicht mehr zulässigerweise weiterverfolgt werden können.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 01.02.2022; Aktenzeichen B 9 SB 62/21 B)

 

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts vom 7. Januar 2020 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt die Feststellung eines höheren Grades der Behinderung (im Folgenden: GdB) sowie der Voraussetzungen für die Erteilung mehrerer Merkzeichen.

Der am xxxx 1976 geborene Kläger stellte am 16. Juni 2015 einen Erstantrag nach dem Schwerbehindertenrecht. Beigefügt waren ein Schlaf-Bericht vom 26. November 2009, ein Arztbrief der Chirurgie/Orthopädie H. vom 17. Juni 2011 sowie ein Entlassungsbericht des U., Poliklinik für psychosomatische Medizin und Psychotherapie vom 20. Februar 2015. Das vormals zuständige Versorgungsamt Hamburg forderte zudem einen Befundbericht von Dr. F1 an, der am 21. September 2015 über eine schwere Schlafstörung und Cheyne-Stokes-Atmung, Schlafapnoe, Essstörung, chronische Erschöpfung, Depression sowie Kopfschmerz des Klägers berichtete. Ebenso eingereicht wurde der Entlassungsbericht der S1 Kliniken vom 14. August 2015 über den stationären Aufenthalt des Klägers im Zeitraum 8. Juli 2015 bis 18. August 2015. Als Diagnosen genannt wurden dort: Rezidivierende depressive Störung, aktuell mittelgradige Episode, Adipositas mit einem BMI von 48, Cheyne-Stokes-Atmung, allergisches Asthma bronchiale, arterieller Hypertonus, Fersensporn und Schmerzen rechter Rippenbogen.

Nach Auswertung dieser medizinischen Befunde durch den versorgungsärztlichen Dienst stellte die vormalige Beklagte beim Kläger mit Bescheid vom 21. Dezember 2015 einen Gesamt-GdB von 30 fest. Sie berücksichtigte eine psychische Störung und ein Schlaf-Apnoe-Syndrom mit einem Teil-GdB von jeweils 20 sowie einen Hypertonus und eine Funktionsstörung des linken Fußes mit einem Teil-GdB von jeweils 10. Die Feststellung der Voraussetzungen für die beantragten Merkzeichen lehnte sie ab, da die Feststellung von Merkzeichen erst ab einem GdB von 50 in Betracht komme.

Hiergegen erhob der Kläger am 11. Januar 2016 Widerspruch und beantragte die rückwirkende Anerkennung eines höheren GdB. Er befinde sich in stationärer Behandlung der B1. Dem nachgereichten vorläufigen Entlassungsbericht vom 22. Februar 2016 waren die Diagnosen rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode, Essstörung, Adipositas Grad III, obstruktives Schlafapnoe-Syndrom, chronisches Müdigkeitssyndrom, essenzielle Hypertonie, gemischte Hyperlipidämie, Thoracic-Outlet-Syndrom, Restless-Legs-Syndrom, Asthma bronchiale, Kalkaneussporn, Senk-Spreiz-Fuß und Laktoseintoleranz zu entnehmen. Das Vorliegen einer rezidivierenden depressiven Störung, gegenwärtig mittelgradig, bestätigte auch die behandelnde Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. F. (Bericht vom 13. November 2015). Die Lungenklinik G. stellte in ihrem Bericht vom 2. März 2016 ein obstruktives Schlafapnoe-Syndrom fest, ohne dabei ein Cheyne-Stokes-Atemmuster zu bestätigen. Es bestehe eine Indikation...

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