Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialhilfe. Eingliederungshilfe. Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft. Hilfen zur Förderung der Verständigung mit der Umwelt. Gebärdensprachdolmetscher. besonderer Anlass. Besuch eines Workshops. Einzusetzendes Einkommen. Benachteiligungsverbot. Anspruchsnorm. Subjektives Recht
Leitsatz (amtlich)
1. Aufwendungen für einen Gebärdensprachdolmetscher können nicht nur dann als Leistung der Teilhabe erbracht werden, wenn der Anlass bzw die Maßnahme, die den Einsatz eines Dolmetschers erforderlich macht, dem Bereich der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zugeordnet werden kann. Diese Aufwendungen können vielmehr unabhängig von der Zuordnung ihres Anlasses selbst Leistungen der Teilhabe sein.
2. Zu den Voraussetzungen eines besonderen Anlasses iS von § 57 SGB 9.
Normenkette
SGB IX §§ 57, 2 Abs. 1, § 4 Abs. 1 Nr. 4, § 55 Abs. 2 Nr. 4; SGB XII § 19 Abs. 3, § 53 Abs. 1, § 54 Abs. 1 S. 1, §§ 82, 85 Abs. 1; SGB I § 17 Abs. 2 S. 2; BGG § 6 Abs. 3, § 7 Abs. 2, § 9 Abs. 1; AGG § 2; UN-BRK Art. 3, 9, 21, 26
Tenor
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin die Aufwendungen für den Einsatz dreier Gebärdensprachdolmetscherinnen bei einem von ihr besuchten Workshop im Mai 2010 in Höhe von insgesamt 2.448,78 Euro zu erstatten.
Die Klägerin ist 1979 geboren und schwerhörig. Das Versorgungsamt hatte mit Wirkung ab 20. Februar 1986 einen Grad der Behinderung von 50 festgestellt, mit Wirkung ab 26. März 1990 auch das Merkzeichen "RF" (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht). Nunmehr beträgt der GdB 80.
Ab Oktober 2009 machte die Klägerin eine Psychotherapie bei der Psychologin B.; diese wurde begleitet von einer Gebärdensprachdolmetscherin. Die Kosten für die Therapie und die Dolmetscherin wurden von der Krankenkasse der Klägerin übernommen. Im Februar 2010 empfahl die Psychotherapeutin der Klägerin die Teilnahme an einem von ihr, der Therapeutin, geleiteten Workshop mit so genannten Familien- und Problemaufstellungen, der in zwei Einheiten im Zeitraum vom 7. bis zum 9. Mai 2010 und vom 2. bis zum 4. Juli 2010 stattfinden sollte.
Zum 22. Februar 2010 nahm die Klägerin eine Beschäftigung auf, bei der sie monatlich 671,64 Euro brutto bzw. 546,46 Euro netto verdiente. Seit dem 25. Februar 2010 erhielt sie aufstockende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) in Höhe von monatlich 605,79 Euro (173,33 Euro Regelleistung, 272,46 Euro Unterkunftskosten und 160,- Euro befristeter Zuschlag nach § 24 SGB II).
Am 1. April 2010 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Übernahme der Kosten für den Einsatz von Gebärdensprachdolmetscherinnen für die Teilnahme an den genannten Workshops. Sie veranschlagte diese Kosten mit maximal 5.583,48 Euro.
Die Beklagte bat die Landesärztin für Hörbehinderte des Fachamts Gesundheit um eine Stellungnahme. Diese führte am 5. Mai 2010 ein Gespräch mit der Klägerin. In ihrer Stellungnahme vom 6. Mai 2010 führte die Ärztin aus, die Familien- und Problemaufstellung sei keine Teilhabeleistung, sondern als therapeutische Maßnahme zu sehen. Dafür könne der Sozialhilfeträger nicht subsidiär Kosten übernehmen.
Vom 7. bis zum 9. Mai 2010 nahm die Klägerin an dem Workshop teil. Dabei nahm sie die Leistungen mehrerer Gebärdendolmetscherinnen in Anspruch: Frau W. war am 7. Mai 2010 von 18.00 Uhr bis 21.00 Uhr, am 8. Mai 2010 von 10.00 Uhr bis 19.00 Uhr und am 9. Mai 2010 von 10.00 Uhr bis 13.00 Uhr im Einsatz, Frau S. am 7. Mai 2010 von 18.00 Uhr bis 21.00 Uhr und am 8. Mai 2010 von 10.00 Uhr bis 14.00 Uhr und Frau G. am 8. Mai 2010 von 14.00 Uhr bis 19.00 Uhr sowie am 9. Mai 2010 von 10.00 Uhr bis 13.00 Uhr. Die Dolmetscherinnen stellten der Klägerin die genannten Zeiten zuzüglich Fahrtzeiten mit einem Stundensatz von 55,- Euro netto in Rechnung. Insgesamt belief sich der in Rechnung gestellte Betrag auf 2.448,78 Euro.
Mit Bescheid vom 14. Mai 2010 lehnte die Beklagte den Antrag auf Übernahme der Kosten für die Gebärdensprachdolmetscherinnen ab. Zur Begründung gab sie die Stellungnahme der Landesärztin für Hörbehinderte vom 6. Mai 2010 wieder.
Die Klägerin widersprach dem Ablehnungsbescheid mit Schreiben vom 19. Mai 2010. Sie führte aus, dass die Krankenkasse für eine Kostenübernahme nicht in Frage komme, da die Familienaufstellung nicht in ihrem Leistungskatalog enthalten sei. Wenn die Hauptleistung nicht übernommen werde, so übernehme die Krankenkasse auch nicht die Nebenleistung des Dolmetschens. Daher sei die Beklagte zur Kostenübernahme verpflichtet. Als Hörgeschädigte habe sie - anders als Hörende - nur die Möglichkeit, mit einem Gebärdensprachdolmetscher an dem persönlichkeitsbildenden Seminar teilzunehmen. Eine Verweigerung der Kostenübernahme sei eine Diskriminierung. Sie sei als Hörgeschädigte einem höheren Maß an psychischen Belast...