Entscheidungsstichwort (Thema)
Höhe des Anspruchs des Hilfebedürftigen auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Erwerbsfähigkeit. Antrag bei einer unzuständigen Stelle. Grundsicherung bei Erwerbsminderung. Abweichende Festsetzung des Regelbedarfs. Verfassungsmäßigkeit. Existenzminimum. Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung. Niereninsuffizienz. Kenntnis von der Notwendigkeit einer besonderen Ernährung
Orientierungssatz
1. § 44a Abs. 1 S. 7 SGB 2 begründet eine Pflicht des Grundsicherungsträgers, bei Streit über die Erwerbsfähigkeit des Hilfebedürftigen Leistungen nach dem SGB 2 zu erbringen. Dabei handelt es sich nicht um eine vorläufige Leistungspflicht. Vielmehr werden die Leistungen im Außenverhältnis zu dem Berechtigten endgültig erbracht.
2. Der Antrag des Hilfebedürftigen auf Weiterbewilligung von Leistungen nach dem SGB 2 wirkt gemäß § 16 Abs. 2 S. 2 SGB 2 auch gegen den Sozialhilfeträger des SGB 12.
3. Nach § 42 Nr. 1 i. V. m. § 27a Abs. 4 SGB 12 a. F. ist der individuelle Bedarf im Einzelfall abweichend vom Regelsatz festzulegen, wenn ein Bedarf unabweisbar seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht.
4. Lassen sich besondere individuelle Bedarfe nicht feststellen, so ist der Sozialhilfeträger an die Bewilligung von Leistungen in Höhe des Pauschalbetrags gebunden. Dieser ist verfassungsgemäß (BVerfG Beschluss vom 23. 7. 2014, 1 BvL 10/12).
5. Bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 30 Abs. 5 SGB 12 steht dem Hilfebedürftigen ein Anspruch auf Gewährung eines Mehrbedarfs zu; ein solcher ist für Kranke, Genesende, behinderte Menschen oder von einer Krankheit oder einer Behinderung bedrohte Menschen, die einer kostenaufwändigen Ernährung bedürfen, anerkannt.
Normenkette
SGB II § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, §§ 8, 44a Abs. 1 S. 7; SGB XII § 41 Abs. 1, 3, § 42 Nr. 1, § 27a Abs. 4, §§ 28, 30 Abs. 5; SGB I § 16 Abs. 2 S. 2; SGG § 75 Abs. 5
Tenor
Die Berufung wird zurückgewiesen Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für das Jahr 2015.
Der 1961 geborene alleinstehende Kläger ist seit längerem hilfebedürftig und bezog laufend Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) vom Beklagten. Der Kläger ist schwerbehindert. Mit Wirkung ab dem 29. Juli 2014 ist bei ihm ein Grad der Behinderung von 80 festgestellt, Merkzeichen sind nicht festgestellt (Bescheid des Versorgungsamts vom 19. Juni 2015).
Mit Bescheid vom 10. Dezember 2014 bewilligte der Beklagte dem Kläger Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für den Zeitraum vom 1. Januar 2015 bis zum 31. Dezember 2015 in Höhe von monatlich 839,72 Euro unter Berücksichtigung eines Regelbedarfs von 399,- Euro und Bedarfen für Unterkunft und Heizung von 440,72 Euro. Hiergegen erhob der Kläger am 9. Januar 2015 Widerspruch. Zur Begründung führte er aus, der Regelsatz sei zu niedrig und müsse monatlich 511,- Euro betragen. Außerdem habe der Beklagte ihm bislang die formellen Anträge auf Mehrbedarfe und besondere Bedarfe nicht zugesandt. Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 24. April 2015 zurück. Der festgesetzte Regelbedarf entspreche dem gesetzlich vorgesehenen Betrag, dessen angepasste Höhe sich aus der Bekanntmachung über die Regelbedarfe des jeweiligen Jahres ergebe. Die Regelbedarfe seien unter Heranziehung der Ergebnisse einer bundesweiten Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) durch den Gesetzgeber festgelegt worden, die aufgrund der bundesdurchschnittlichen Entwicklung der Preise für regelbedarfsrelevante Güter und Dienstleistungen sowie der bundesdurchschnittlichen Entwicklung der Nettolöhne und gehälter fortgeschrieben würden. Das Landessozialgericht habe für den Bewilligungszeitraum vom 1. Januar 2014 bis zum 31. Dezember 2014 bereits entschieden, dass dem Kläger keine Mehrbedarfe für kostenaufwändigere Ernährung oder andere Bedarfe zu gewähren seien. Die Höhe der für Unterkunft und Heizung gewährten Bedarfe werde vom Kläger nicht angegriffen.
Am 27. Mai 2015 hat der Kläger Klage zum Sozialgericht Hamburg erhoben. Er fordere einen monatlichen Regelsatz von mindestens 511,- Euro sowie einen zusätzlichen monatlichen Regelsatz für dauerhafte Transferleistungsbezieher von mindestens 150,- Euro und weitere 150,- monatlich als behinderungsbedingten Nachteilsausgleich. Zur Begründung verweise er auf sein Vorbringen in bereits abgeschlossenen Berufungsverfahren. Außerdem empfehle die Hartz-IV Kommission einen Regelsatz von 511,- Euro monatlich. Der D. Wohlfahrtsverband habe zum 1. Januar 2015 eine Erhöhung des Regelsatzes auf 485,- Euro monatlich gefordert.
Das Sozialgericht hat die Klage durch Gerichtsbescheid vom 10. Juli 2015 abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Beklagte habe die Regelleistungen zutreffend nach § 20 SGB II festgesetzt. Es bestünden keinerlei Zweifel daran, dass die genannte Regelung im Einklang mit höherrangigem ...