Entscheidungsstichwort (Thema)
Zulässigkeit der Berufung trotz fehlender Prozessfähigkeit des Berufungsklägers - Vorverfahrenspflicht bei Anfechtungs- und Verpflichtungsklage
Orientierungssatz
1. Für die Zulässigkeit der Berufung ist grundsätzlich die Prozessfähigkeit des Berufungsklägers als Prozesshandlungsvoraussetzung erforderlich. Im Interesse eines vollständigen Rechtschutzes muss aber auch der Prozessunfähige die Möglichkeit haben, den Prozess durch seine Handlung in die höhere Instanz zu bringen (BSG Beschluss vom 29. 7. 2005, B 7a AL 162/05 B).
2. Zur Zulässigkeit einer Anfechtungs- und Verpflichtungsklage nach § 54 Abs. 1 SGG ist die Durchführung eines Widerspruchsverfahrens gemäß § 78 SGG erforderlich. Die Unzulässigkeit der Klage wegen fehlenden Vorverfahrens ist nicht heilbar.
Nachgehend
Tenor
1. Die Berufung der Klägerin wird zurückgewiesen.
2. Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
3. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist, ob die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin Förderungsmaßnahmen für eine Weiterbildung zu gewähren. Konkret angestrebt ist von der Klägerin eine Umschulung zur Gesundheits- und Pflegeassistentin.
Die Klägerin hatte bereits im Mai 2020 einen Bildungsgutschein für eine entsprechende Umschulung beantragt. Die diesbezügliche Ablehnung durch die Beklagte war Gegenstand des Verfahrens L 14 AL 196/20 = L 2 AL 46/20. Der Bescheid ist bestandskräftig, auf das zwischen den Beteiligten ergangene Urteil des Senats vom 14. Juli 2021, sowie auf den die Gewährung von Prozesskostenhilfe (PKH) ablehnenden Beschluss des Bundessozialgerichts (BSG) vom 28. Oktober 2021 (B 11 AL 12/21 BH) wird Bezug genommen.
Nach der ursprünglichen Rechtslage hätte der Restanspruch der Klägerin auf Arbeitslosengeld (Alg) spätestens mit Ablauf des 12. März 2020 geltend gemacht werden müssen und noch 63 Tage betragen. Aufgrund eines im August übersendeten Antrags der Klägerin mit verschiedenen Streichungen, aus welchem sich bei wohlwollender Auslegung eine Arbeitslosmeldung zum 12. März 2020 ergeben konnte und aufgrund der Sonderregelung des § 421d Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III), bewilligte die Beklagte mit Bescheid vom 17. August 2020 der Klägerin Alg für die Zeit vom 12. März 2020 bis zum 13. August 2020.
Am 12. August 2020 beantragte die Klägerin telefonisch erneut die Weiterbildung zur Gesundheits- und Pflegeassistentin. Mit Bescheid vom 19. August 2020 und Widerspruchsbescheid vom 10. November 2020 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Der Anspruch der Klägerin auf Leistungen der Beklagten sei seit dem 13. August 2020 erschöpft, die sachliche Zuständigkeit der Beklagten daher nicht mehr gegeben.
Die Klägerin hatte bereits am 13. August 202 Klage erhoben, weil „das Arbeitsamt sie nicht umschule“. Die Umschulung sei immer wieder verzögert worden. Auch nach Erlass des Widerspruchbescheides wolle sie an der Klage festhalten, denn man tue ihr Unrecht. Sie wolle gerne arbeiten und sich für die Gesellschaft nützlich machen.
Das Sozialgericht hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 1. Februar 2021 abgewiesen und im Wesentlichen ausgeführt, es werde auf die Gründe des Widerspruchsbescheides verwiesen. Eine Vorverlegung des Alg-Bezuges nach den Grundsätzen eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruches komme bereits deshalb nicht in Betracht, weil die Klägerin den Restanspruch inzwischen vollständig aufgebraucht habe. Die Klägerin hat gegen den Gerichtsbescheid rechtzeitig Berufung eingelegt, mit welcher sie vorträgt, die Beklagte habe immer wieder eine Testung als Voraussetzung für eine Umschulung benannt, diese Testung aber niemals durchgeführt. Ihre Lebensplanung sei dadurch böswillig vereitelt worden.
Die Klägerin beantragt wörtlich,
„das Verfahren zurückzuverweisen. Wäre eine Anhörung richtig erfolgt wie sie vorgeschrieben ist, wäre die Klage auszulegen. Richterliche Hinweise wären dann ergangen bezüglich Unzulässigkeit. Der Fehler ist beim LSG nicht heilbar. Ist ein Fehler nicht heilbar, muss die Rückverweisung erfolgen, auch wenn sie nach 2020 nur noch selten erfolgt. Dass hier entscheiden wird, ist nur zulässig, wenn in dieser Instanz Fehler der ersten Instanz völlig beseitigt werden können. Einen abschließenden Antrag kann ich nicht stellen ohne Anwalt, da es sich um Prozessrecht handelt.“
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes und des Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf den Inhalt der ausweislich der Sitzungsniederschrift vom 24. November 2021 zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Akten und Unterlagen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung der Klägerin ist statthaft (§§ 143, 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG)) und auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht (§ 151 SGG) erhoben. Sie ist nicht schon wegen möglicherweise fehlender Prozessfäh...