Entscheidungsstichwort (Thema)

Krankenversicherung. Nichtvorliegen einer aufsichtsrechtlich relevanten Rechtsverletzung. Krankenkasse. öffentlicher Auftraggeber. Verstoß gegen haushaltsrechtliche Ausschreibungspflicht. keine umgehende Kündigung des unter diesem Verstoß geschlossenen Vertrages

 

Leitsatz (amtlich)

1. Eine aufsichtsrechtlich relevante Rechtsverletzung liegt nicht vor, wenn zum Zeitpunkt des Handelns des Versicherungsträgers diesem eine eindeutige Rechtslage nicht entgegen stand. Spätere Rechtsentwicklungen wirken auf diesen Zeitpunkt grundsätzlich nicht zurück.

2. Die Rechtsfrage, ob gesetzliche Krankenkassen als öffentliche Auftraggeber im Sinne des Vergaberechts anzusehen sind, war erst durch das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 11. Juni 2009 eindeutig geklärt.

3. Der Verstoß allein gegen die haushaltsrechtliche Ausschreibungspflicht rechtfertigt nicht die aufsichtsrechtliche Anordnung, den unter diesem Verstoß geschlossenen Vertrag umgehend zu kündigen.

 

Tenor

Die den Vertrag vom 30. November 2007 betreffenden Verfügungssätze 1 und 2 des Bescheides der Beklagten vom 17. März 2011 werden aufgehoben.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens zu drei Vierteln und die Klägerin zu einem Viertel.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Im Streit ist die Rechtmäßigkeit eines aufsichtsrechtlichen Verpflichtungsbescheides.

Die klagende SECURVITA BKK ist eine bundesunmittelbare und für Betriebsfremde geöffnete Betriebskrankenkasse mit Sitz in H.. Sie geht als Betriebskrankenkasse zurück auf die S. Gesellschaft zur Entwicklung alternativer Versicherungskonzepte mbH (im Folgenden: S. GmbH), die Teil der 1984 von Herrn T.M. gegründeten Unternehmensgruppe S. Holding AG ist. Die S. GmbH, deren Alleingesellschafter und alleinvertretungsberechtigter Geschäftsführer T.M. war und ist, ist das Satzungs- bzw. Trägerunternehmen der 1996 gegründeten Klägerin, deren Verwaltungsratsvorsitzender T.M. auch war und ist. Mit der S. GmbH schloss die Klägerin eine Reihe von Verträge; fünf davon sind Streitgegenstand in den Senatsverfahren L 1 KR 47/11 KL bis L 1 KR 51/11 KL.

Im Jahr 1994 meldete T.M. das Zeichen “S.„, im Jahr 1997 die S. GmbH die - graphisch veränderte - Marke “S.„ und im Jahr 2002 die S. GmbH die - erneut graphisch veränderte - Marke “S.„ beim Deutschen Patentamt an und wurden Zeichen und Marken jeweils eingetragen. Mit Schreiben vom 17. Dezember 1996 erklärte T.M. als Geschäftsführer der S. GmbH und der S. Versicherungsmakler GmbH gegenüber der Beklagten, dass die Klägerin - vereinigte SECURVITA BKK - auf Dauer und unwiderruflich das Recht zur Nutzung des Namens “S.„ erhalte.

Die Klägerin schloss am 30. November 2007 mit der S. GmbH einen Vertrag über die Erbringung von Serviceleistungen des Interessenten-, Neu- und Bestandskundenmanagements für die Klägerin (im Folgenden: Vertrag “Kundenmanagement„). Die Serviceleistungen umfassen nach dem Vertrag die

- telefonische Information und Beratung von Interessenten auf der 1st und 2nd-Level-Ebene (Inbound-Dienstleistungen),

- Erfassung von Interessentendaten,

- Übernahme aller wesentlichen Tätigkeiten des Service-Centers der SECURVITA BKK, in der telefonischen Überlauffunktion,

- Sachbearbeitung für E-Mail-, Brief- und Fax-Eingänge,

- Übernahme des Output-Managements in Form von Druck, Kuvertierung und Versand von Informationsmaterial,

- Nachverfolgung (Wiedervorlage) der Kontakte per Anruf oder Briefversand (Outbond-Dienstleistungen).

Der Vertrag weist in Ziffer 5 zahlreiche Positionen mit auch inanspruchnahmeabhängigen Preisen für Einzelleistungen auf, so dass sich aus ihm ein fester geschuldeter Preis nicht entnehmen lässt. Nach Angaben der Klägerin wandte sie habe im Jahr 2010 einen Betrag in Höhe von 727.584,70 EUR und im Jahr 2011 in Höhe von 639.746,15 EUR für die Durchführung dieses Vertrags auf; für das Jahr 2012 seien die Kosten nicht seriös quantifizierbar geplant. Der Betrag sinke, weil durch Prozessoptimierungen bei der Klägerin die Dienstleistung des Bestandskundenmanagements nicht mehr in Anspruch genommen werden müsse. Nach Ziffer 7 basieren alle angebotenen Leistungen und Vergütungen auf einer Vertragslaufzeit von 24 Monaten. Der Vertrag verlängert sich jeweils um ein weiteres Jahr, wenn mit einer Frist von 6 Monaten zum Monatsende keine schriftliche Kündigung vorliegt.

Die Aufsichtsprüfung der Beklagten bei der Klägerin, inwieweit - in diesem und in anderen Fällen - bei der Auftragsvergabe an die S. GmbH den vergaberechtlichen Bestimmungen entsprochen wurde, endete mit der Feststellung einer Rechtsverletzung durch Verstoß gegen das Vergaberecht und mündete in die Einleitung aufsichtsrechtlicher Maßnahmen nach § 89 Abs. 1 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IV) hinsichtlich der fünf in den Senatsverfahren L 1 KR 47/11 KL bis L 1 KR 51/11 KL streitbefangenen Verträge mit dem Ziel, die Behebung der Rechtsverletzung durch umgehende Beendigung der unter Verstoß gegen das Vergaberecht zustande gekommenen Verträge zu erreichen.

Mit aufsichtsrec...

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