Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. einstweiliger Rechtsschutz. Regelungsanordnung. Anordnungsanspruch. Asylbewerberleistung. Grundleistung. niedrigere Bedarfssätze bei Unterbringung in einer Sammelunterkunft. Darlegung und Nachweis gemeinschaftlicher Haushaltsführung. verfassungskonforme Auslegung
Leitsatz (amtlich)
1. Es bestehen erhebliche Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit der in § 3a Abs 1 Nr 2 Buchst b und § 3a Abs 2 Nr 2 Buchst b AsylbLG geregelten Bedarfsstufen für erwachsene Leistungsberechtigte ohne Partner, die in Aufnahmeeinrichtungen, Gemeinschaftseinkünften oder vergleichbaren Unterkünften untergebracht sind.
2. Eine verfassungskonforme Auslegung der Norm gebietet, dass als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal die tatsächliche und nachweisbare gemeinschaftliche Haushaltsführung des Leistungsberechtigten mit anderen in der Sammelunterkunft Untergebrachten vorausgesetzt wird, wofür die objektive Beweislast (und im Eilverfahren die Darlegungslast) beim Leistungsträger liegt. (Festhaltung an LSG Neustrelitz vom 11.5.2020 - L 9 AY 22/19 B ER = ZFSH/SGB 2020, 524)
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Stralsund vom 10. November 2020 aufgehoben.
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig verpflichtet, dem Antragsteller für die Zeit ab dem 2. November 2020 Leistungen nach den §§ 3, 3a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 Asylbewerberleistungsgesetz (BS 1) zu gewähren.
Der Antragsgegner trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers für beide Rechtszüge.
Dem Antragsteller wird Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung für das Beschwerdeverfahren unter Beiordnung seiner Prozessbevollmächtigten bewilligt.
Gründe
I.
Der 1993 geborene Antragsteller ist nigerianischer Staatsangehöriger. Er reiste am 10. August 2020 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Aufgrund eines am 11. August 2020 gestellten Asylantrages befindet er sich im laufenden Asylverfahren und verfügt derzeit über eine Aufenthaltsgestattung.
Ab dem 8. Oktober 2020 wurde der Antragsteller dem Landkreis des Antragsgegners zugewiesen. Ab diesem Tage ist der Antragsteller in einer Gemeinschaftsunterkunft untergebracht.
Mit Bescheid vom 12. Oktober 2020 bewilligte der Antragsgegner dem Antragsteller Leistungen gemäß § 3 Asylbewerberleistungsgesetz ab dem 9. Oktober 2020 bis auf weiteres und zwar anteilig für den Monat Oktober 2020 in Höhe von 131,32 € und ab dem Monat November 2020 monatlich 316,- € (Bedarfsstufe - BS - 2).
Hiergegen legte der Antragsteller am 27. Oktober 2020 Widerspruch ein. Er habe ab November 2020 einen Anspruch auf Leistungen nach § 3 Asylbewerberleistungsgesetz nach der Bedarfsstufe 1. Die „Zwangsverpartnerung“ seiner Person mit den anderen Bewohnern der Gemeinschaftsunterkunft sei verfassungswidrig. Er wirtschafte nicht gemeinsam mit den anderen Bewohnern der Gemeinschaftsunterkunft.
Am 2. November 2020 hat der Antragsteller einen Eilantrag beim Sozialgericht (SG) Stralsund gestellt. Er habe Anspruch auf Leistungen in Höhe von monatlich 351,- €. Die Regelung des § 3a Abs. 1 Nr. 2b Asylbewerberleistungsgesetz sei verfassungswidrig. Sie verletze das durch Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG garantierte Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums und verstoße gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Der Gesetzgeber habe den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts nicht Rechnung getragen. Er habe keinerlei Ermittlungen hinsichtlich des spezifischen Bedarfs von Leistungsberechtigten gemäß § 3a Abs. 2 Asylbewerberleistungsgesetz angestellt. Der Bedarf von Leistungsberechtigten gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 2b Asylbewerberleistungsgesetz weiche nicht signifikant von dem Bedarf alleinstehender erwachsener Leistungsberechtigter ab. Der Gesetzgeber begnüge sich davon auszugehen, dass eine Gemeinschaftsunterbringung für die Bewohner solcher Unterkünfte Einspareffekte zur Folge habe, die denen in Paarhaushalten im Ergebnis vergleichbar seien. Personen einer Gemeinschaftsunterkunft hätten keine gleichlautenden Einspareffekte. Die gesetzgeberische Begründung dürfte eher in den finanziellen Auswirkungen des Gesetzes zu finden sein. Auch sei unklar, welche Leistungen die anderen Mitbewohner des Antragstellers bezögen. Es sei der Entscheidung des LSG Mecklenburg - Vorpommern vom 11. Mai 2020 - L 9 AY 22/19 B ER - zu folgen.
Der Antragsteller hat beantragt,
den Antragsteller im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller ab dem 2. November 2020 Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz nach § 3 Asylbewerberleistungsgesetz nach der Bedarfsstufe 1 zu gewähren.
Der Antragsgegner hat beantragt,
den Antrag abzuweisen.
Der Antragsteller habe bedarfsdeckende Leistungen nach §§ 3 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit 3a Abs. 1 Nr. 2b und 3 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit 3a Abs. 2 Nr. 2b Asylbewerberleistungsgesetz (BS 2) erhalten und habe keinen ...